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(Teil 4)
2.6. Milieu und Anthropologie
Scheler gilt als einer der Begründer der modernen philosophischen Anthropologie in der bürgerlichen Philosophie. Anthropologie wurde im Anschluss an Scheler zur Ersatzwissenschaft für die traditionelle Metaphysik, die wie diese anthropologische Erneuerung der Philosophie das gesellschaftliche Leben in Einklang mit überzeitlichen Ideen bringen wollte. Das Neue bei ihm ist, dass er neue Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Anthropologie ins Metaphysische überhöht und in seine Wertphilosophie einbaut. Scheler weist ausdrücklich auf die grundlegende Funktion seiner Anthropologie hin: "Es ist Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie, genau zu zeigen, wie aus der Grundstruktur des Menschseins (…) alle spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen: so Sprache, Gewissen, Werkzeuge, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstellenden Funktionen der Künste, Mythos, Religion, Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit." (Scheler: Kosmos, S. 87) Aber auch aus dem Begründungszusammenhang seiner Wertphilosophie ist die Reflexion anthropologischer Fragen zwingend.
Wenn Werte durch das Fühlen erkannt werden und dieses Erkennen objektiv sein soll, dann muss das Fühlen durch anthropologische Konstanz bestimmt sein. Scheler argumentiert entsprechend, dass selbst bei „Perversion des Triebes“ das sinnliche Gefühl eine Zeit der Gewöhnung benötigt, um dieser Perversion zu folgen und Lust dabei zu empfinden. (Vgl. Scheler: Ethik, S. 159, Anm. 2) „Perversionen“ kann es nur geben, wenn ein konstantes Natürliches als Maßstab dient, sonst sind es kulturell bestimmte moralische Aversionen oder Verbote. Der natürlichen Konstanz widerspricht die These, dass das Milieu den Charakter prägt, wie sie insbesondere in der Literatur des Naturalismus und auch in der Folge von Darwins Evolutionsdarstellung vorgebracht wurde.
Schelers Antwort auf diese Entwicklungsthese des Menschen ist seine eigene Milieuthese, nach der das, was Milieu ist, immer schon auf den Menschen und seine konstanten „Triebeinstellungen“ bezogen werden müsse. „Faktisch aber ist jedes Lebewesen ein geordneter Stufenbau von Trieben mit materialen Werteinstellungen und dies unabhängig von der Wirkung der Milieugegenstände – wohl aber bestimmend für sie. Es bringt einen 'Plan' der möglichen Güter schon in seiner Triebeinstellungsart mit sich, der nicht erst seiner Milieuerfahrung verdankt wird und dem seine leiblich-körperliche Organisation entspricht.“ (Ethik, S. 159) Die Milieugegenstände können nur die Triebe erregen, soweit sie diesen Trieben entsprechen. „Sie sind nicht Ursachen, sondern Folgen dieser Erregung.“ (Ebda.) Scheler begründet diese Auffassung mit dem Argument, die Milieugegenstände sind nicht einfach nur vorhanden, sondern werden erst zu solchen, weil sie menschlichen Strukturen entsprechen. Aus der Fülle des Existierenden werde das zum Milieugegenstand, das auf Grund der Struktur des Menschen ihn beeinflussen kann. Also sei das Milieu durch diese Struktur allererst gesetzt. „Die Gegenstände, die auf das Handeln bestimmend werden, die Milieugegenstände, werden dies nur, sofern sie selbst schon auf Grund der Wertrichtungen des leiblichen Teillebens und der ihm immanenten Vorzugsregeln aus der Ganzheit der Welttatsachen herausgeschnitten sind. Das jeweilige Milieu eines Wesens ist also das genaue Gegenbild seiner Triebeinstellungen und ihrer Struktur, d.h. Ihres Aufbaues.“ (Ebda.)
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Nun ist es richtig, dass nicht alles Existierende ein Milieu für den Charakter ist. Mikroben oder elektromagnetische Wellen außerhalb unseres Sehbereichs nehmen wir nicht wahr. Sie können also auch nicht unseren Charakter oder unsere Triebstruktur prägen. Deshalb ist aber noch lange nicht die Invarianz unserer Triebstruktur begründet. Die Fülle möglicher Milieugegenstände und ihrer Wirkung auf die Charaktere lässt sich nicht mit dem Hinweis abtun, dass Milieugegenstände immer schon auf uns hin bezogen sein müssen, wenn wir sie als solche erkennen. Ein Blick in die Geschichte und der dort erkennbaren Darstellung des Menschen zeigt, dass jedes Jahrhundert seine eigene Bestimmung vom Menschen hat. Wenn Scheler von der anthropologischen Konstanz der Triebstruktur ausgeht, sie als apriorische Basis für die Wertbestimmung ausgibt, dann muss ihm mit Hegel entgegnet werden: „das richtende Prinzip für jenes Apriorische ist das Aposteriorische“ (Hegel: Naturrecht, S. 445) Schon Mandeville hat die verschiedenen Moralvorstellungen der Völker verglichen und deren Unverträglichkeit erkannt.
„Was die Menschen von Kindheit an gelernt haben, davon werden sie beherrscht; die Macht der Gewohnheit entstellt die Natur und ahmt sie zugleich derart nach, daß es oft schwierig ist, zu wissen, durch welche von diesen beiden wir beeinflußt werden. Im Orient verheirateten sich früher Schwestern mit Brüdern, und es galt als verdienstlich für einen Mann, seine Mutter zu heiraten. Solche Ehebündnisse sind verabscheuenswert; bei allem Grausen, das uns bei dem Gedanken hieran erfaßt, gibt es aber sicher nichts in uns, was sich von Natur dagegen auflehnte, sondern nur etwas, was sich auf Mode und Herkommen gründet. Ein frommer Mohammedaner, der niemals Spirituosen gekostet, aber häufig betrunkene Menschen gesehen hat, kann leicht eine ebenso große Abneigung gegen den Wein bekommen, wie sie bei uns ein anderer von der geringsten Moralität und Bildung gegen eine Verbindung mit seiner Schwester hat, und beide können sich dann einbilden, daß ihre Abneigung in ihrer Natur begründet sei.“ (Mandeville: Bienenfabel, S. 361)
Scheler, der die Nivellierung der Triebstruktur durch die kapitalistische Industriegesellschaft vor sich hat, kann dadurch die historischen Differenzen abstrakt negieren und wie heute die Verhaltensforschung (Eibl Eibesfeldt) von einer konstanten Triebstruktur ausgehen. Da auch für Scheler der Mensch kaum noch Instinkte hat, die ihn leiten, sind alle „Urtriebe“ (Freud) des menschlichen Organismus und darauf beruhendes Fühlen, keine Konstanten, sondern kommen immer nur vor als kulturell geformte und deshalb historisch modifizierte. Eine Begründung von Werten aus der Treibstruktur des Menschen und seinem Fühlen – falls es überhaupt möglich wäre – könnte deshalb auch nur historische Resultate hervorbringen.
Das scheinbar Unmittelbare des Fühlens ist vermittelt durch Erziehung, soziales Milieu, die vorherrschende Triebstruktur der Gesellschaft, politische und rechtliche Verhältnisse, gesellschaftlich vorherrschende Ideen usw. Die Unmittelbarkeit des Fühlens ist deshalb immer konservativ. Kommt der Werttheoretiker aus dem Bürgertum, dann entspringen auch die konservierenden Werte seiner Klasse aus seinem unmittelbaren Fühlen. „Dem in der 'Materialen Wertethik' geforderten rezeptiven Verhalten gegenüber den ewiggültigen Werten entspricht das Mass der Unverbindlichkeit, welches die zu 'Kulturgütern' erstarrten sittlichen Normen – als nicht mehr verwertbare Spekulation – erreicht haben. 'Kultur, das heisst, die ausserökonomischen Bezirke, läuft dabei Gefahr, als feiertägliche Abteilung zu gelten ...'. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit, in die das Individuum in einer sich verschärfenden Konkurrenzgesellschaft geraten ist, möchte die Schelersche Philosophie an der überraumzeitlichen Gültigkeit der Werte festhalten, um dem überall drohenden Zerfall der Masstäbe wenigstens vom Denken her Einhalt zu gebieten.“ (Lenk: Ohnmacht, S. 60) Scheler kann sich bei der Fundierung seiner Werte durch das Fühlen auf eine historisch relativ vereinheitlichte Triebstruktur in den Industriegesellschaften berufen, die sich von der Uneinheitlichkeit früherer Epoche unterscheidet. "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. (...) Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen." (Marx/Engels: Manifest, S. 464 f.) So entsteht bei Scheler das Paradox, dass er sich - allerdings ohne Selbstbewusstsein davon - auf das Gleichmacherische der kapitalistischen Produktionsweise in seiner Theorie des festen Emotionalen beruft, deren Geist er scheinbar aus konservativer Position bekämpft (siehe unten 3.12.).
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Schelers Auffassung von Milieu mündet bei ihm in einer philosophischen Anthropologie. Er ist der Anreger für eine Hinwendung zum „Wesen“ des Menschen, die nur verständlich ist auf Grund ideologischer Bedürfnisse. War Schelers Milieutheorie noch gekennzeichnet durch die Abwehr von Einwänden gegen seine Methode des Werteerfühlens, so ist seine Anthropologie von vornherein als Fundierung seiner gesamten Philosophie gedacht – eine Begründungsweise, die dann Karriere (besonders in der deutschen Philosophie) gemacht hat.
Der Mensch ist nach Scheler „als plastischer Säugetiertypus“ durch seinen Körper nicht wesentlich vom Tier unterschieden. Seine Instinkte sind zurückgebildet, dafür hat er die höchst entwickelte Intelligenz im Tierreich. Allerdings versteht Scheler unter Intelligenz nicht das diskursive Denken, sondern ein „Zufallsprodukt“ des „instinktiven Verhaltens“ (Scheler: Kosmos, S, 23). Die Intelligenz besteht für Scheler in den individuellen und variablen Reaktionen auf die Herausforderungen der Umwelt. „Es dürfte wohl auch nachweisbar sein, daß die Intelligenz keineswegs erst auf einer höheren Stufe des Lebens, wie z.B. Karl Bühler meint, zum assoziativen Seelenleben (und seinem physiologischen Analogon, dem bedingten Reflex) hinzutritt; sie bildet sich vielmehr streng gleichmäßig und parallel zum assoziativen Seelenleben aus, und sie ist (...) keineswegs erst bei den höchsten Säugetieren, sondern schon im Infusorium vorhanden.“ (Scheler: Kosmos, S. 23)
Das Denken des Ichs ist für das assoziative Gedächtnis, das zur Maßlosigkeit und Dekadenz (wie angeblich im Hedonismus) neigt (a.a.O, S. 31), die „prinzipiell noch organisch gebundene praktische Intelligenz“ (S. 32). „Gehen wir auf die psychische Seite hinüber, so können wir Intelligenz definieren als die plötzlich aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt, der weder direkt wahrnehmbar gegeben ist noch auch je vorher wahrgenommen wurde, d.h. reproduktiv verfügbar wäre. Positiv ausgedrückt: als Einsicht in einen Sachverhalt (seinem Dasein und zufälligen Sosein nach) auf Grund eines Beziehungsgefüges, dessen Fundamente zu einem Teil in der Erfahrung gegeben sind, zum anderen Teile antizipatorisch in der Vorstellung, z.B. auf einer bestimmten Stufe optischer Anschauung, hinzu ergänzt werden. Für dieses nicht reproduktive, sondern produktive Denken ist also kennzeichnend immer die Antizipation, das Vorher-Haben eines neuen, nie erlebten Tatbestandes (pro-videntia, Klugheit, Schlauheit, List).“ (Scheler: Kosmos, S. 32 f.)
Diese Intelligenz bewege sich aber in engen Bahnen, da sie nicht nur von der erfahrbaren Wirklichkeit abhänge, sondern auch durch den Trieb determiniert sei. „nicht feste, typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam ausgewählte Sachbeziehungen der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile zueinander, welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zur Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache von etwas.“ (A.a.O., S. 33) Scheler begründet hier anthropologisch, was Max Horkheimer als Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft im Kapitalismus analysiert hat. Scheler hypostasiert demnach kulturelle Erscheinungen zum anthropologischen Faktum, wie er historisch Entstandenes enthistorisiert.
Nicht minder sei beim Menschen das assoziative Gedächtnis am höchsten entwickelt (Scheler: Kosmos, S. 24). Allerdings berechtigten diese entwickelten Vermögen des Menschen nicht, ihn über die Tierwelt zu erheben, da Intelligenz und assoziatives Gedächtnis sowie auch Wahlvermögen bei höheren Säugetieren vorhanden seien und der Mensch sich von diesen Tieren wie etwa den Schimpansen nur durch eine bloß graduell höhere Entwicklung auszeichne. (A.a.O., S. 33 f.) Die Zurückbildung seiner Instinkte müsse der Mensch durch „Übung“ ausgleichen (S. 25). Dennoch seien die Instinkte des Menschen nicht völlig verschwunden. Sie seien im vor- und unbewussten Fühlen anwesend. „Ferner ist das Wissen, das im Instinkte liegt, nicht sowohl ein Wissen durch Vorstellungen und Bilder oder gar durch Gedanken, sondern ein Fühlen wertbetonter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände.“ (S. 24) Da Instinkte starr und artgebunden seien (S. 23), wird von Scheler hier auch anthropologisch seine Wertlehre mit ihrem Apriorismus abgesichert.
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Es gibt nach Scheler aber dennoch etwas im Menschen, dass ihn nicht nur graduell, sondern seinem Wesen nach über alle Tiere erhebt und ihn dadurch zur Gottähnlichkeit bringt. Dieses Etwas begründet die „Sonderstellung“ des Menschen im Kosmos. (A.a.O., S. 37) „Aber auch das wäre verfehlt, wenn man sich das Neue, das den Menschen zum Menschen macht, nur dächte als eine zu den psychischen Stufen: Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl noch hinzukommende neue Wesensstufe psychischer und der Vitalsphäre angehöriger Funktionen und Fähigkeiten, die zu erkennen also in der Kompetenz der Psychologie und Biologie läge.“ (A.a.O., S. 37) Das Geistprinzip steht außerhalb der Vitalsphäre, ist immateriell, „umweltfrei“ und „weltoffen“. Der Geist ist frei, absolut (S. 38), „übersingulär“, „pure Aktualität“ und seiner selbst bewusst (S. 41). Er trennt das Dasein vom Wesen (S. 32). „Schon die Griechen behaupteten ein solches Prinzip und nannten es 'Vernunft'. Wir wollen lieber ein umfassenderes Wort für jenes X gebrauchen, ein Wort, das wohl den Begriff 'Vernunft' mitumfaßt, aber neben dem 'Ideendenken' auch eine bestimmte Art der 'Anschauung', die von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die feie Entscheidung mitumfaßt -: das Wort 'Geist'. Das Aktzentrum aber, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphären erscheint, bezeichnen wir als 'Person', in scharfen Unterschied zu allen funktionellen Lebenszentren, die nach innen betrachtet auch 'seelische' Zentren heißen.“ (Scheler: Kosmos, S. 38)
Diese Feier der Sonderstellung des Menschen durch seinen (göttlichen) Geist kontrastiert aber auffällig mit der Reduktion des Geistes auf mehr oder weniger bloße Kontemplation. Nicht der Geist gibt uns das Dasein der Dinge, indem er wie bei Kant aus den Wahrnehmungen die Dinge konstruiert, sondern das „Erlebnis des Widerstandes“, das es nur „für unseren zentralen Lebensdrang“ geben kann. Dieser Drang allein speist den Geist mit Energie, von sich aus fehlt ihm diese völlig. „Nicht ein Schluß führt etwa zur Realsetzung der Außenwelt (die als Sphäre z.B. auch im Traum besteht), nicht der anschauliche Gehalt der Wahrnehmung (wie die 'Formen', 'Gestalten') gibt uns das Realitätserlebnis, nicht die Gegenständlichkeit (die ja auch Phantasiertes hat), nicht die fixe Stelle im Raume in der Bewegung der Aufmerksamkeit usw., - sondern der erlebte Widerstandseindruck gegen die unterste, primitivste, wie wir sahen, selbst der Pflanze noch zukommende Stufe des seelischen Lebens, den 'Gefühlsdrang', gegen unser nach allen Richtungen ausgreifendes, immer, auch im Schlafe und in den letzten Stufen der Bwußtlosigkeit noch tätiges Triebzentrum.“ (Scheler: Kosmos, S. 53) Der Geist ist „von Hause aus ohnmächtig“, er benötigt eine „Energisierung“ durch den Drang. „Aber als solcher ist der Geist in seiner 'reinen' Form ursprünglich schlechthin ohne alle 'Macht', 'Kraft', 'Tätigkeit'.“ (Scheler: Kosmos, S. 57; siehe auch 2.10.)
Diese Vorstellung von Geist ist wissenschaftlich nicht haltbar, wie unten gezeigt wird. Sie rechtfertigt sich allein aus Schelers – selbst wieder falschen – Wertbegründung durch das Fühlen als deren anthropologische Absicherung. In der assoziativen Darstellungsweise von Scheler, bei der man oft nicht zwischen (willkürlichen) Thesen und den Argumenten unterscheiden kann, ergibt sich dieser Begriff des Geistes auch nicht als historische Erfahrung einer sozialen Wirklichkeit, in der tatsächlich eine übergreifende zwecksetzende Vernunft als intellectus agens kaum eine Rolle spielt, weil der Automatismus der Kapitalproduktion alle gesellschaftlichen Zwecke bestimmt. Diese anthropologische Absicherung der materialen Werttheorie lässt sich selbst nur soziologisch begreifen. Es ist ein ideologisches Bedürfnis nach festen Werten, nach philosophischem Eskapismus, der sich selbst noch in Schelers Übernahme neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse äußert.
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Über die Rolle dieser Art Anthropologie schreibt Max Horkheimer: „Die moderne philosophische Anthropologie entspricht demselben Bedürfnis, das die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu befriedigen sucht: nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnung, vor allem der Tradition als unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll. Diese Anwendung des Denkens, begriffliche Zusammenhänge zu entwerfen und aus ihnen das ganze menschliche Leben sinnvoll zu begründen, die geistige Anstrengung, das Schicksal jedes Einzelnen und der ganzen Menschheit in Einklang mit einer ewigen Bestimmung zu bringen, gehört zu den wichtigsten Bestrebungen der idealistischen Philosophie. Sie wird vor allem durch den widerspruchsvollen Umstand bedingt, daß in der neueren Zeit die geistige und personale Unabhängigkeit des Menschen verkündet wird, ohne daß doch die Voraussetzung der Autonomie, die durch Vernunft geleitete solidarische Arbeit der Gesellschaft, verwirklicht wäre. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen tritt einerseits die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, das 'Wertgesetz', nicht als Motor der menschlichen Arbeit und der Weise, in der sie sich vollzieht, hervor. Der ökonomische Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als beherrschende Naturmacht aus. Die Notwendigkeit der Formen, in denen die Gesellschaft sich erneuert und entwickelt und die ganze Existenz der Individuen sich abspielt, bleibt im Dunkeln. Andererseits haben diese Individuen es gelernt, für die gesellschaftlichen Lebensformen, die sie durch ihr tägliches Handeln aufrecht erhalten und gegebenenfalls beschützen, also für die Verteilung der Funktionen bei der Arbeit, für die Art der hergestellten Güter, für die Eigentumsverhältnisse, Rechtsformen, die Beziehungen der Staaten usw. Gründe zu fordern. Sie wollen wissen, warum sie so und nicht anderes handeln sollen, und verlangen eine Richtschnur. Die Philosophie sucht dieser Ratlosigkeit durch metaphysische Sinngebung zu steuern. Anstatt dem Anspruch der Individuen nach einem Sinn des Handelns durch Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und durch Hinweis auf ihre praktische Überwindung zu genügen, verklären sie die Gegenwart, indem sie die Möglichkeit des 'echten' Todes zum Thema wählt und dem Dasein tiefere Bedeutung zu geben unternimmt.“ (Horkheimer: Anthropologie, 96 f.)
Bei Scheler heißt diese Sinngebung der sinnlosen Produktion um der Produktion willen, der sich die Menschen mit ihren Glücksansprüchen opfern müssen, der „Tod“ sei „der Urdrang alles Lebens“. (Scheler: Kosmos, S. 14) Er verklärt die Fremdbestimmung der Menschen als anthropologischen „Drang“, der, als „Einheit aller reich gegliederten Triebe und Affekte des Menschen“, „das Subjekt“ im Menschen sei, ohne den er kein Bewusstsein von der Wirklichkeit hätte. Und er verklärt das Bestehende als „objektive Stufenordnung“ (a.a.O., S. 17 f.), die auch das seelische Leben bestimme, sodass jeder Widerstand gegen diese Ordnung als sinnloser Widerstand gegen die eigene Natur erscheint.
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2. 7. Der Ordo amoris
Es ist typisch für die bürgerliche Philosophie nach Hegel - also nachdem sie den systematischen Dialog mit der Geschichte der Philosophie abgebrochen hat, diese nur noch als Steinbruch von Gedanken, aber nicht mehr als Entfaltung von Wahrheit ansieht -, dass sie das vorhandene „Begriffsmaterial“ willkürlich nach ihren jeweiligen Interessen ordnet, Systeme aufbaut, deren Halbwertzeit bestenfalls so lange dauert, wie der Philosoph seinen Lehrstuhl inne hat, und mehr oder weniger neue Erkenntnisse der Einzelwissenschaften einbezieht, jedenfalls soweit sie in das System passen. Ein solches System mag auf den ersten Blick in sich eine gewisse Stimmigkeit erlangen, weil alle relevanten Phänomene darin ihren Platz haben, aber bei genauer Analyse wird die Willkür, die Widersprüchlichkeit, das bloß Behauptete, jedoch nicht Bewiesene solch einer Konstruktion deutlich. Und regelmäßig blamiert sich die meist idealistische Konstruktion an der empirischen Wirklichkeit. Solch eine irrationale Konstruktion ist Schelers Aufblähen der Phänomenologie zu einem metaphysischen (wenn auch noch unvollendeten) System: dem Ordo amoris, analog zum mittelalterlichen ordo rerum gedacht.
Wenn Scheler davon ausgeht, dass die Menschen ein festes anthropologisches Wesen haben, auf das sich auch eine Ethik gründen kann, wenn die Werte phänomenologisch aus dem Fühlen erschlossen werden können und wenn sich auch eine objektive Rangordnung der Werte durch Vorziehen und Nachsetzen (siehe nächstes Kapitel) aus dem Fühlen ergeben soll, dann setzt das eine anthropologische Gefühlsstruktur voraus, auf der eine gleichwertige Erkenntnisweise des Gefühls beruht, wie sie das rationale Denken darstellt. Diese Gefühlsstruktur (mein Begriff für das, was Scheler meint) gehorche ähnlich dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs in der diskursiven Logik einem emotionalen Widerspruchsprinzip (vgl. Sanders: Scheler, S. 44), sodass unser Gefühl – in Schelers Sinn verstanden – ebenfalls eine widerspruchsfreie Struktur hätte. Soll es diese geben, dann muss es ein oberstes Gefühl geben, dem alle anderen Gefühle zugeordnet sind. Dieser „Urakt“ des Fühlens ist die Liebe (a.a.O., S. 61). Ihr steht als negatives Gefühl der „Haß“ gegenüber. Liebe und Hass sind aber nicht nur faktische Gefühle, sondern werden bei Scheler als „geistige Akte“ überhöht. Die Liebe ist dann ein „geistig-emotionaler Akt“ der Anziehung, eine spontane geistige Bewegung als Welterlebnis (a.a.O., S., 52). Während der Hass als geistiger Akt uns blind mache, führe uns die Liebe zum Sehen, sie erschließt uns die Welt. Auf der Liebe gründe die ganze Ordnung unseres Fühlens und damit der dadurch erkannten ontologischen Werte. „Während das 'Fühlen von' ein eher passives Aufnehmen von Qualitäten ist und das Vorziehen, obwohl ein intentionales geistiges Geschehen, auf die im Fühlen gegebenen Qualitäten als sein Material verwiesen ist, besitzt die Liebe eine aktive Erschließungsfunktion.“ (Sander: Scheler, S. 51) Scheler unterscheidet nach Sander, deren affirmativen Darstellung ich hier bei der Wiedergabe des Ordo amoris folge, zwischen einem faktischen Ordo amoris, der „aus zielmäßig wirksamen", aber nicht "aktiven, frei bewußten (...), sondern automatischen (...) Vorgängen des psychovitalen Subjektes im Menschen“ hervorgeht, und dem „idealen“ Ordo amoris, der eine „an sich zeitlose Wertwesenheit in der Form der Personalität“ darstellt und die „individuelle Bestimmung“ einer Person beinhaltet (nach Gesammelte Werke Bd. 10, S. 353; zitiert nach Sander: Scheler, S. 63). Dieser ideale Ordo amoris werde von dem Menschen nicht „gesetzt“, sondern nur erkannt, durch Selbsterfahrung entschleiert. Er bestehe nur für die geistige Persönlichkeit in uns. Die Art des Aufbaus der Liebes- und der Hassakte bestimme dann den Kern des Menschen als Geistwesen. Ja, der Ordo amoris bestimme sogar das Milieu des Menschen, wie z.B. ein Jäger in der Landschaft ein anderes Milieu vorfindet als ein unbedarfter Spaziergänger an dem gleichen Ort. Es versteht sich von selbst, dass der Mensch seinen faktischen Ordo amoris dem idealen Ordo amoris annähern sollte, um den Wert seiner Persönlichkeit zu steigern.
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Wie die Werte apriorisch seien, so enthalte auch das Lieben und Hassen einen Apriorismus, der das „letzte Fundament alles anderen Apriorismus, und damit das gemeinsame Fundament sowohl des apriorischen Seinserkennens, als des apriorischen Wollens von Inhalten“ ist (Scheler: Ethik, S. 60). Der Ordo amoris ist damit der letzte Einheitsgrund alles menschlichen Erkennens und Verhaltens. Wie Freud, den Scheler sonst kritisiert, den Lebenstrieb (Eros) und den Todestrieb (Tantalos) zum Erklärungsgrund für menschliches Verhalten schlechthin überhöht (vgl. Lohmann: Freud, S. 47 ff., und Freud: Unbehagen, S. 102), sodass sich mit diesen Prinzipien sogar noch Kriege erklären ließen, so macht Scheler „Liebe“ und „Haß“ zu universellen letzten Erklärungsgründen für alles historische Geschehen. (Vgl. zum „Haß“ etwa Scheler: Pädagogische, S. 305 ff., zu Liebe und Krieg etwa: a.a.O., S. 68 f. und unten 2.9.4.) Ökonomische Mechanismen und ihre gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen werden anthropologisiert, zum Wesen des Menschen umgedeutet und dadurch zu natürlichen erklärt.
Seit es Wissenschaft und psychologische Fragestellungen gibt (z.B. Aristoteles Buch über die Seele), war man bestrebt, den zunächst chaotisch erscheinenden Fluss von Vorstellungen, Gefühlen, Assoziationen und begrifflichen Gedanken zu ordnen und Prinzipien darin zu erkennen. Bekannt sind zu Schelers Zeit die Freudschen Begriffe des Es, Ich und Über-Ich. Sind diese aber empirisch erschlossen und mehr oder weniger begründete Hypothesen, die Freud sein Leben lang an seinen Beobachtungen von seelischen Krankheiten präzisierte, so übernimmt Scheler Behauptungen der Psychologie seiner Zeit (z.B. von Franz Brentano) und macht „Selbstbeobachtungen“, die er dann zu seiner phänomenologischen Ontologie hypostasiert. Wie diese Ontologie ist aber auch sein Ordo amoris nichts als eine subjektive Konstruktion, Willkür, die sich als Objektivität aufspreizt. Der Anspruch der klassischen Philosophie von Kant bis Hegel, unbedingt nach Objektivität und Wahrheit zu streben, ist bei Scheler - trotz anderslautender Beteuerungen - verschwunden, ähnlich wie in seinem philosophischen Umfeld in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn Schelers gesamte Konstruktion verfällt wie seine bisher dargestellte Wertphilosophie der Kritik: Die Gefühle eines spätbürgerlich geprägten „Kulturmenschen“ werden absolut gesetzt, seine Wertbegründung aus dem „Fühlen“ heraus ist ein grandioser naturalistischer Fehlschluss, die phänomenologische Methode irrational, die behauptete ontologische Fundierung der „Werte“ eine Hypostase subjektiver Bestimmungen. Abgesehen von seinem höchsten Wert des Heiligen ist der Ordo amoris der Höhepunkt Schelerscher Irrationalität.
Was Kurt Lenk allgemein formuliert, gilt insbesondere für den Ordo amoris: „Gegenüber den skeptischen Positionen, die alles philosophische Erkennen mit dem Makel der Ideologiehaftigkeit belegen, möchte Scheler die Autonomie des Denkens 'retten'. Er glaubt, dass dies nur in der Weise zu leisten sei, dass das Philosophieren sich auf eine von der Geschichte unberührte Sphäre, auf ein objektiv gültiges Ideen- und Wertreich zurückziehe. Die Konsequenz eines solchermassen unternommenen Rettungsversuchs ist aber der Rückfall in einen Subjektivismus, der sich darin zeigt, dass Scheler aus der Analyse des von der objektiven, historischen Vernunft abgespaltenen menschlichen Seins die Kategorien für das Begreifen der geschichtlichen Wirklichkeit zu gewinnen meint. Losgelöst 'von den materiellen Momenten der Existenz hat Denken sich' bei ihm 'zum metaphysischen Prinzip verklärt und als Grundlage des geschichtlichen Prozesses ausgelegt'.“ (Lenk: Ohnmacht, S. 57 f.; die Zitate im Zitat sind von Horkheimer)
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