PlatonAristotelesEpikurSpinozaLockeKant BildHegelMarxAdornoMarcuseBloch

Erinnyen 18 Logo Zeitschrift Logo

Erinnyen Aktuell ButtonPhilosophieseite ButtonSchuledialektik ButtonVereindialektik ButtonBuchladen ButtonTagbuch ButtonRedakteur Button

 

Home Editorial Button

Aphorismen Button

Materialistische Ethik Button

Rezensionen Button

Glossar Button

Impressum Button

Abbonieren Sie
unseren:

Newsletter Button

Holen Sie sich die
neuesten Headlines
auf ihren Bildschirm:

RSS-Feed Button
 

 

Wertphilosophie III Titel

Button nach oben  

  (Teil 5)

2. 8. Die materialen ethischen Werte im Konkreten

2. 8.1. Rangordnung der Werte

Eine Intention Schelers ist es, alle Werte in einer Rangordnung zu fundieren. Da alle unsere Handlungen auf Werte bezogen sind, selbst wenn diese Handlungen unmoralisch sind, sich also an „negativen Werten“ (passim u. z.B. Ethik, S. 20) orientieren, kann Scheler die gesamte gesellschaftliche und natürliche Ordnung in einer Werteordnung fundieren. Dazu gehört z.B. auch das Rechtssystem, denn „alles Sein eines positiven Gesollten ist recht“ (Ethik, S. 79, siehe auch 2.9.3.). Dies ist das Programm der mittelalterlichen Philosophie, die alles Sein in eine hierarchische Ordnung bringen wollte, sodass vom Stein bis zu Gott eine seinsmäßige göttliche Rangordnung gebildet wird, die sich dann im Kopf der Menschen als bewusste Seinsordnung widerspiegelt – zu der es keine vernünftig denkbare Alternative geben soll. Bei Scheler ist diese Rangordnung aber keine, die aus den Erscheinungen des Seienden abstrahiert wird, wie in der mittelalterlichen Philosophie, sondern, wie bereits gezeigt, soll sie ontologisch durch das Wertfühlen uns „gegeben“ sein.

Das Erkennen der Rangordnung geschieht wie beim Erkennen der einzelnen Werte durch das Fühlen. Der Rang eines Wertes wird durch Vorziehen erfühlt. Dieses „Vorziehen“ „findet statt ohne jedes Streben, Wählen, Wollen“ (Ethik, S. 85). Es ist vom empirischen Vorziehen zu unterscheiden, das sich auf die Güter bezieht, das „apriorische Vorziehen“ dagegen geht auf die Werte selbst. So wie wir diese phänomenologisch fühlen, so fühlen wir auch ihre Rangordnung durch das „Vorziehen“. Die Kritik am Fühlen, wie sie oben gemacht wurde, gilt auch für das Fühlen als Vorziehen. Da dieses irrational ist, würde jeder eine andere Rangordnung konstruieren. Doch diese „Täuschung des Vorziehens“ verkenne die „intuitive Vorzugsevidenz“, die nicht mit der logischen Deduktion von Werten, wie sie etwa Kant betreibe, zu verwechseln sei. „Vielmehr findet alle Erweiterung des Wertbereiches (eines Individuums z.B.) allein 'im' Vorziehen und Nachsetzen statt. Erst die in diesen Akten ursprünglich 'gegebenen' Werte können sekundär 'gefühlt' werden. Die jeweilige Struktur des Vorziehens und Nachsetzens umgrenzt also die Wertqualitäten, die wir fühlen. Es ist hiernach klar, daß die Rangordnung der Werte niemals deduziert oder abgeleitet werden kann.“ (Ethik, S. 87) Der „höhere Wert“ soll uns „wie von selbst“ entgegentreten, sodass uns die Rangordnung sich enthüllt. Das setzt wie beim einfachen phänomenologischen Wertfühlen eine anthropologische Ordnung voraus, die zugleich als ontologische gedacht wird.

Scheler weiß selbstverständlich, dass uns Gefühle täuschen können, aber da dies in Bezug auf die Güter, an denen Werte haften, geschieht, kann er das Wertfühlen und das Vorziehen in der Rangordnung der Werte – wenn es der phänomenologischen Methode folge - als widerspruchsfrei hinstellen. „Daß wir nicht denselben Wertverhalt begehren und verabscheuen können, ist ein evidenter Satz.“ (Ethik, S. 82) Dem Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch in der Logik korrespondiere die Widerspruchsfreiheit des „reinen Fühlens“ in unserer ontologisierten Gefühlswelt. (Vgl. Sander: Scheler, S. 44) Obwohl dies allen historischen Erfahrungen widerspricht und auch den Ergebnissen der Völkerkunde (vgl. Strauss: Traurige Tropen, passim), muss Scheler offenkundige Widersprüche und Gegensätze menschlicher Gefühle ablehnen und widersprechende Wertungen zu „Täuschungen über ihr Anwendungsgebiet“ umdeuten. Und noch die Täuschungen muss er auf den bösen Willen zurückführen, sodass auch in der Täuschung die Werte „notwendig erfüllt" werden.

Diese Argumentation hätte nur dann eine gewisse Berechtigung, wenn seine materialen Werte tatsächlich ontologisch im Menschen als Apriori verankert wären. Da die Begründung dieses Apriori sich als irrational erwiesen hat, ist auch die Rangordnung der Werte bei Scheler, soweit sie auf der „intuitiven Vorzugsevidenz“ beruht, irrational (siehe oben 2.5.). Wenn das Vorziehen intuitiv ist, dann ist es auch nur Eingeweihten zugänglich, die eine ähnliche Sozialisation hinter sich haben wie Scheler. Es läuft dann letztlich wieder aufs gesellschaftliche Bedürfnis hinaus wie bei Lotze, dessen philosophische Konstruktion die eines konservativen Edelspießers im 19. Jahrhundert ist.  

Zurück zum Anfang des Kapitels

Scheler kommt denn auch nicht umhin, damit man auch nur seine Intention verstehen kann, diskursive Kriterien für die Rangordnung seiner Werte anzugeben, die er aus der idealistischen Tradition der Philosophie entnimmt, ohne sie auch nur ansatzweise zu begründen. (Das wäre dann nämlich wieder eine „Deduktion“ wie bei Kant, von der er sich ständig distanziert.) Der Idealismus der Rangordnung ergibt sich bereits aus den höchsten Werten, nämlich den „ewigen“ Werten (Ethik, S. 91) und dem „Heiligen“, die dann letztlich als Emanation des Göttlichen behauptet werden. „So scheinen die Werte um so 'höher' zu sein, je dauerhafter sie sind; desgleichen um so höher, je weniger sie an der 'Extensität' und Teilbarkeit teilnehmen; auch um so höher, je weniger sie durch andere Werte 'fundiert' sind; um so höher auch, je 'tiefer' die Befriedigung ist, die mit ihrem Fühlen relativ ist auf die Setzung bestimmter wesenhafter Träger des 'Fühlens' und 'Vorziehens'.“ (Ethik, S. 88)  Im Einzelnen sind dies:

  1. Das Kriterium der Teilbarkeit: Ein ökonomischer Wert wie etwa Tuch ist teilbar und deshalb weniger Wert als ein Kunstwerk, das nur als Ganzes seinen Wert habe.
  2. Das Kriterium der Fundierung: So fundiert der Wert des Angenehmen den Wert des Nützlichen, sodass der Wert des Angenehmen höher in der Rangordnung steht.
  3. Das Kriterium der Dauer: Ewige Werte sind höherrangig als Werte mit einer Dauer, die begrenzt ist, und diese wertvoller als kurzlebige Werte. Das ewige Heilige ist demnach höher als vitale Werte wie Gesundheit und diese höher als der von Verbrauchsgütern.
  4. Das Kriterium der Tiefe des Gefühls: Der Wert eines geistigen Produkts ist höher, erzeugt eine größere Befriedigung als etwa die Lust an einem guten Essen.

Auch hier zeigt sich wieder die idealistische christliche Tradition, die ontologisch verklärt wird, indem gegen den „Hedonismus“, als das „unbefriedigende“ rastlos Suchen nach „Genußwerten“, die geistige Befriedigung gesetzt wird, als ob nicht geistige Befriedigung immer auch mit körperlicher Lust verbunden ist, wie schon Aristoteles wusste (vgl. Nikomachische Ethik, S. 249), und als ob nicht das geistige Streben nach Erkenntnis auch ein „rastloses Suchen“ ist oder sein kann.
Die „gefühlte Absolutheit“ (Ethik, S. 98) von Werten, ihre Erkenntnis durch „unmittelbare Intuition“ (Ethik, S. 97) und „reines Fühlen“ (Ethik, S. 95), das "nicht erst durch Überlegung“ zustande kommt, sondern man sagen muss: „sie gehen auf“ (Ethik, S. 97), diese ontologische Hybris erweist sich als das falsche idealistische Bewusstsein eines bürgerlichen Philosophen, der den Weg seiner Kollegen zum Irrationalismus um eine Variante bereichert hat. (Das hindert nicht daran, oder genauer: gerade deshalb ist Schelers oberster Wert: das Heilige, in Niedersachsen zum Kursthema für die Oberstufe im Fach „Werte und Normen“ von der konservativen Regierung bestimmt worden.)

Es kann hier nicht der Ort sein, die Schelersche Wertscholastik weiter zu treiben. Wer etwas über seine Personen- und Sachwerte, Eigen- und Fremdwerte, Aktwerte, Funktionswerte und Zustandswerte lesen möchte, der kann in seiner materialen Wertethik die entsprechenden Kapitel nachlesen. Stattdessen möchte ich an zwei konkreten Werten, dem Angenehmen und der Gerechtigkeit, das ideologische Moment seiner ethischen Konstruktion aufzeigen.

Zurück zum Anfang des Kapitels

2. 8.2. Der Wert des Angenehmen

Nach Eislers „Handwörterbuch der Philosophie“ von 1913, also der Entstehungszeit der Schelerschen Ethik, erscheint „angenehm“ als etwas Subjektives:
Angenehm ist, was dem fühlend-begehrenden Wesen in der Empfindung willkommen ist, das sinnlich Gefallende, was lustbetonte Empfindungen hervorruft. Wenn auch das Angenehme vom Schönen zu unterscheiden ist, so ist doch das Angenehme von Sinneseindrücken (z.B. von Farben, Tönen) an dem Zustandekommen ästhetischer (s. d.) Gefühlen beteiligt. - Nach KANT ist a., 'was den Sinnen in der Empfindung gefällt' (Krit. der Urteilskraft, § 3). Das A. ist individuell-subjektiv, es reizt das Begehren und ist daher vom Ästhetischen (s. d.) scharf zu sondern.“ (S. 30) Auch lässt sich über das Angenehme nach Kant keine Regel aufstellen.

Diese Subjektivität wird im Utilitarismus wichtig zur moralischen Orientierung. Nach Jeremy Bentham ist das Prinzip der Nützlichkeit oberstes Prinzip der Moral, und die Nützlichkeit fußt auf der Vermeidung von Leid und dem Erstreben von Freude, wobei diese beiden Begriffe mit dem Vermeiden des Unangenehmen und dem Erstreben des Angenehmen bei Scheler cum grano salis verglichen werden können. „Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt.“ (Bentham: Prinzipien, S. 16) „Freuden und das Vermeiden von Leiden sind also die Ziele, die der Gesetzgeber im Auge hat; ihm obliegt es somit, ihren Wert zu erkennen.“ (Bentham: Prinzipien, S. 17)
Nach Scheler liegt der Fehler im Utilitarismus nicht darin, dass es in dieser Interessenmoral kein sittliches Prinzip gäbe oder dass er keine „sozial geltende Moral“ wäre (Scheler: Ethik, S. 179), ja sogar Ideale sieht er in ihm, sondern der Fehler liege in der Unfähigkeit des Utilitarismus, seine Prinzipien objektiv herzuleiten. „Der Irrtum des Utilitarismus liegt also darin, daß er eine Theorie des Guten und Bösen selbst zu geben meint, während er nur eine (wahre) Theorie vom sozialen Lob und Tadel des Guten und Schlechten faktisch gibt.“ (Scheler: Ethik, S. 181) Damit aber alle Menschen eine Moral akzeptieren, muss sie fundiert sein. Fundiert wäre sie aber nur nach der phänomenologischen Methode. Für eine Moral, die ein Sollen aufstellt, müsse gelten: „Vielmehr gründen auch alle Normen, Imperative, Forderungen usw. - wenn sie nicht willkürliche Befehlssätze sein wollen – in einem selbständigen Sein, im Sein der Werte.“ (Scheler: Ethik, S. 179)

Andererseits lobt er den Utilitarismus aber auch, insofern er die Scheinobjektivität vieler sich absolut gebender Moraltheorien ausspricht, indem er ihr Interesse geleitetes Bestreben offen legt.. Ob aber Schelers ontologischer Apriorismus mehr trägt, lässt sich am „absoluten“ Wert des Angenehmen zeigen.

Das Angenehme wird bei Scheler zu einem Wert ontologisiert und von dem Angenehmen konkreter Dinge streng unterschieden. Das Angenehme als Wert ist apriori, das konkrete Angenehme als Gut ist empirisch und kann dementsprechend schwanken in seinem Wert. Das Angenehme ist kein besonders hoher Wert in der „Rangordnung der Werte“, es ist abhängig von den vitalen Werten wie Gesundheit, Mut, Edlem und Tüchtigen (Ethik, S. 105). Andererseits sei das Angenehme ein „Selbstwert“, kein „Konsekutivwert“ (Folgewert). Vom Angenehmen ist z.B. der Konsekutivwert des Nützlichen abhängig, der ein bloßes Werkzeug des Angenehmen sei. Scheler selbst ordnet den Rang des Angenehmen als apriorischen Wert wie folgt ein: „Die Werte des Edlen und Gemeinen sind eine höhere Wertreihe als die des Angenehmen und Unangenehmen; die geistigen Werte eine höhere Wertreihe als die vitalen Werte, die Werte des Heiligen eine höhere Wertreihe als die geistigen Werte.“ (Ethik, S. 109) Der Wert "Angenehm" gehört nach Scheler zur Wertreihe der vitalen Werte.

Zurück zum Anfang des Kapitels

Kritik am Wert des Angenehmen

Scheler macht zwischen dem „Angenehmen“ als Wert und angenehmen Dingen einen „absoluten Unterschied“: „Mag derselbe Vorgang für einen Menschen angenehm sein, der für einen anderen unangenehm ist (resp. für verschiedene Tiere), so ist doch der Unterschied der Werte angenehm – unangenehm selbst ein absoluter Unterschied, der vor der Kenntnis dieser Dinge klar ist.“ (Ethik, S. 104) Wenn aber für den einen etwas angenehm ist und für den anderen dasselbe unangenehm, dann kann dies den Inhalt des Begriffs „angenehm“, den Scheler allerdings nicht direkt definiert, nicht unberührt lassen – er löst sich auf. Entweder ist das Angenehme und Unangenehme bloß ganz formal unterschieden, dass es also nur überhaupt diesen Unterschied gibt, ohne jeden bestimmten Unterschied, bloß die Tatsache, dass wir etwas faktisch vorziehen, dann kann das Angenehme kein materialer Wert sein, es wäre rein formal. Genau das behauptet Scheler: Es bleibt bei ihm als einzige Bestimmung, dass das Angenehme dem Unangenehmen vorgezogen wird. Das aber ist für das philosophische, d.h. allgemeine, Denken ein Unterschied von Nichts. Nur die empirische Anschauung könnte zeigen, dass etwas für diesen Menschen angenehm, für einen anderen dagegen unangenehm ist. Danach ist der Begriff des Angenehmen ein reiner Formalismus, den Scheler ständig Kant vorwirft, aber kein apriorischer materialer Wert.

Oder dem Angenehmen und Unangenehmen käme ein inhaltlicher Unterschied zu, wie er etwa rot und blau zukommt, dann wäre das Angenehme auch kein objektiver Wert, sondern vom subjektiven Empfinden der Individuen, die etwas als angenehm bestimmen, abhängig – entgegen der Schelerschen Bestimmung des Angenehmen als objektiven Wert. Die dritte Möglichkeit, dass das Angenehme als Wert eine anthropologische Konstante sei, also ontologisch im Menschen verankert wäre, widerspricht den empirischen Tatsachen, die gerade bei diesem immer auch sinnlich Empfundenen eine große Bandbreite an Vielfalt dessen zeigen, was angenehm oder unangenehm für die Individuen ist, von historischen und geografischen Unterschieden ganz zu schweigen. Wenn z.B. Wein in Maßen genossen in Westeuropa durchaus als „angenehm“ empfunden wird (nicht dieser konkrete Wein, sondern guter Wein überhaupt als das „Angenehme“), so empfinden andere Kulturen Wein mit Abscheu, also als das Unangenehme, sodass sie sogar religiöse Verbote dagegen aussprechen. Man muss schon sehr von dem „Edlen“ (Ethik, S. 105) in sich und seiner „Tiefe“ (Ethik, S. 98) überzeugt sein, um seine Vorstellung des „Angenehmen“ als apriorischen materialen Wert aufzuspreizen. Das macht Scheler ebenfalls im Widerspruch zu seiner bloß formalen Bestimmung des Unterschieds vom Angenehmen und Unangenehmen, wenn er z.B. von „Perversion der Begierden“ spricht, „vermöge deren sie (die Perversen, B.G.) lebensschädliche Dinge 'als angenehm' erleben“ (Ethik, S. 104). Dass diese „lebensschädliche(n) Dinge“ an dem eurozentristischen und bürgerlichen Werten gemessen werden, versteht sich von selbst. Dieser Maßstab im Verhältnis zu anderen Kulturen, den der Edelspießer Scheler hat, wird dann nicht nur zum Maß „apriori“ „historischer Wertschätzung“, sondern auch zum Maßstab „aller ethnologischen Erfahrung“ für „fremde Lebensäußerungen“ (Ethik, S. 104).

Gerade am Begriff des Angenehmen zeigt sich die Unmöglichkeit materiale Werte als allgemein gültige zu bestimmen. Allgemein kann nur - wie Kant wusste - die Form sein: Hier der logische Unterschied von angenehm und unangenehm. Einen allgemeinen materialen Wert des Angenehmen kann es nicht geben, da es eine praktisch unendliche Variabilität der Empfindungen des Angenehmen gibt. Ein materialer Wert des Angenehmen ließe sich noch nicht einmal für eine besondere Kultur bestimmen, geschweige denn für eine Kultur, die auf einer kapitalistischen Warenproduktion mit ihrer permanenten Revolutionierung der sinnlichen Reize basiert.

Diese Widersprüchlichkeit in der Bestimmung des Angenehmen, das einmal bloß formal sein soll und dennoch ein materialer Wert sein soll, das apriori gelten soll und dem tatsächlich sehr unterschiedliche bis widersprüchliche inhaltlichen Empfindungen des Angenehmen entsprechen, das eine historische Epoche, die europäische Kultur, zum Maßstab macht und doch überhistorisch absolut sein soll, macht die objektiven Interessen Schelers deutlich: In der Zeit des Untergangs und Versagens der bürgerlich europäischen Kultur soll sie noch einmal als objektive bestimmt und dadurch gerettet werden. Schelers Intention ist die Konservierung der „Werte“ einer untergehenden sozialen Schicht innerhalb der herrschenden Klasse. Was Thomas Mann in seinem Roman „Die Buddenbrooks“ mit Wehmut geschildert hat, will Scheler durch Ontologisierung retten. Die willkürliche Erklärung bürgerlicher Werte zu ontologischen, um sie als ewige zu bewahren, beschleunigt aber nur ihren Untergang. Das willkürliche Verfahren der Bestimmung apriorischer Werte, noch dazu in einem Bereich, in dem es kein Apriori geben kann, untergräbt jede Dignität des behaupteten Inhalts.

Zurück zum Anfang des Kapitels

2. 8.3. Der sittliche Wert Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist ein geistiger Wert bei Scheler. Gerechtigkeit steht deshalb über den vitalen Werten (und dann auch über den Wert des „Angenehmen“), aber unter den obersten Wert des „Heiligen“. Eine genaue Definition, was dieser geistige Wert ist, wird nicht gegeben, man muss sie aus den Textzusammenhängen erschließen. Der geistige Wert „Gerechtigkeit“ steht über dem positiven Recht (vgl. Scheler: Ethik, S. 212, Anm. 2), Scheler wendet sich damit gegen jede Art der Begründung, die positives Recht allein aus einer „Setzung des souveränen Subjekts“ (Monarch oder Parlament) erschaffen sein lässt (a.a.O., S. 566 Anm. 1). Ein Recht, das dem geistigen Wert der Gerechtigkeit genügt, kann allein aus einer Gesamtperson als Zentrum geistiger Akte kommen, das ist der Staat, die Kirche oder eine andere Gemeinschaft (nicht aber der Gesellschaft als bloßes Agglomerat). Eine Gemeinschaft besteht aus Personen im Schelerschen Sinne, die sich zu einer „Gesamtperson“ vereinigt haben. Als Gesamtperson darf sie nicht von zufälligen Mehrheiten abhängen, sondern sich allein an den Werten orientieren. Das ist die antidemokratische, gegen den Gedanken der Volkssouveränität gerichtete Stoßrichtung der Gerechtigkeit bei Scheler.

Das Verhältnis des „ethischen“ Wertes „Gerechtigkeit“ zur Rechtssphäre ist nicht monokausal zu sehen. Der Unterschied zum Recht liegt einmal in der Freiwilligkeit, da Gerechtigkeit ein sittlicher Wert ist und deshalb nur auf Freiwilligkeit beruhen kann; das positive Recht dagegen ist immer mit Zwang verbunden, kann also auch gegen den sittlichen Willen einer Person stehen. Allerdings solle der Wert Gerechtigkeit der Maßstab für das positive Recht sein – wie vermittelt auch immer sie in Beziehung stehen. Nach Scheler gehören Privat- und Strafrecht zur vitalen Sphäre. Werte und Rechtsformen wie „Vergeltung“, „Strafe“, „Sühne“ oder gar „Rache“ sind keine Formen der Gerechtigkeit, sondern sollen das Überleben der Gesellschaft sichern. Im Extremfall der Todesstrafe gibt es keine sittliche Rechtfertigung, wohl aber könne die Gesellschaft auf Grund ihres Lebensinteresses „Vergeltung“ dieser Art fordern. Lediglich aus dem Leben und Überleben, also den vitalen Werten, lässt sich die Bestrafung von Gesetzesbrechern rechtfertigen.

Damit aber tut sich ein Widerspruch zwischen der Rangordnung der Werte und ihrer Praxis auf. Der geistige und sittliche Wert Gerechtigkeit steht höher in der Rangordnung als die vitalen Werte, diese können aber nach Scheler gegen den höherrangigen Wert verstoßen, wenn es vital opportun ist, wodurch die Ranghöhe des sittlichen Werts keine Bedeutung mehr hätte, er wäre ranghöher und nicht ranghöher – oder er wäre im Geist ranghöher und in der Praxis nicht ranghöher: Und die Schelersche Konstruktion erweist sich als abstrakter Idealismus.

Zurück zum Anfang des Kapitels

Wenn dann der sittliche Wert der Gerechtigkeit der positiven Rechtssphäre und ihrer Praxis den moralischen Maßstab liefert, dann kann dies nur sehr vermittelt sein. Scheler macht diesen Zusammenhang an dem Beispiel der Vergeltung deutlich. „(...) es ist nicht die sittliche Sphäre, sondern die von ihr grundverschiedene Rechtssphäre, in deren Umkreis die Vergeltungsidee zu suchen ist. 'Vergeltung' als solche ist darum auch keineswegs eine Folgeforderung davon, daß Gerechtigkeit sein solle. Die Gerechtigkeit ordnet und regelt nur den Impuls der Vergeltung, indem sie die Idee der Proportion, des Gleichen für Gleiches, der Forderung nach Vergeltung (auf irgendeine näher bestimmte Weise) hinzufügt. Nicht aber ist aus der Idee der Gerechtigkeit jene der 'Vergeltung' je abzuleiten oder durch Analyse zu gewinnen.“ (Scheler: Ethik, S. 374 f.) Der sittliche Wert wird durch diese Konstruktion rein gehalten und kann doch als der höhere und bestimmendere angesehen werden, insofern das Äquivalenzprinzip beachtet wird. Diesen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Recht drückt Scheler auch so aus: „Nur aus einem Teil des Wesenskernes der Gerechtigkeit, nach dem es gut ist und sein soll, daß unter gleichem Wertverhalten (!) auch gleiches Verhalten wollender Personen stattfinde, folgt – wenn es Vergeltung gibt -, daß diese auch Gleichwertiges gleich zu treffen habe. Nicht aber folgt aus ihr die Forderung einer 'Vergeltung' selbst.“ (A.a.O., S. 377) Der Wesenskern der Gerechtigkeit widerspricht aber auch nicht der Vergeltung!

Als wesentliche inhaltliche Bestimmung des geistigen Wertes „Gerechtigkeit“ bleibt dann die abstrakte Regel: „daß unter gleichem Wertverhalten auch gleiches Verhalten wollender Personen stattfinde“ (ebda.). Die Pointe dieser Bestimmung liegt in dem implizit geforderten unterschiedlichen Recht, je nach dem Wertverhalten einer Person. Eine wertvollere Person muss in der Konsequenz Schelerscher Gerechtigkeit nach einem höheren Recht beurteilt werden als eine weniger wertvolle Person. Das "Höhere" im Wertrang ist für Scheler immer auch das Höhere in der sozialen Stellung. (Vgl. Bd. 8, S. 21) Das aber ist die elitäre Überhöhung der wertvolleren Persönlichkeiten gegenüber den weniger wertvollen, denn Gleiches gilt nur für Wertgleiches, Einzelpersonen oder Kulturpersonen wie die Nation mit einem höheren Wert stehen dann über Personen mit einem niederen Wert oder niederen Nationen und können auch ein höheres Recht für sich in Anspruch nehmen. Da das "Wertverhalten" bei den Menschen unterschiedlich ist, folgt aus dieser Bestimmung die unterschiedliche Behandlung der Personen: Jedem das Seine, aber nicht als Ziel für alle auf Basis einer allgemeinen Befriedigung der Bedürfnisse, davon ist bei Scheler nirgends die Rede, sondern je nach Rangordnung der Personen in der Klassengesellschaft oder im Konkurrenzkampf der Nationen. Konsequent wird von Scheler eine Wertdifferenzierung der Personen auch im Recht gefordert. Dies ist die Umkehrung der bürgerlichen Gleichheit vor dem Recht, wie sie seit der Aufklärungsperiode im 18. Jahrhundert gefordert, zum "Vorurteil" geronnen (Marx) und schließlich auch in den meisten westeuropäischen Ländern als positives Recht durchgesetzt wurde. Die gleichen sozialen Chancen für alle, die sozialistische Erweiterung der formalen bürgerlichen Gleichheit, hätte in Schelers Wertphilosophie überhaupt keine Basis zur Begründung. Auf den Krieg bezogen ergibt sich, dass eine höherwertige Kulturpersönlichkeit (Nation) gegenüber einer minderwertigen alles moralische Recht auf ihrer Seite hat (s. u. 2.9.4.).

Andererseits kann der Staat, die Gemeinschaft oder die Nation zwar das Leben einer Person im Krieg fordern, nicht aber die Aufgabe ihres Personseins, als ob mit dem Tod eines Menschen nicht auch sein Personsein verschwindet. (Dem Tod der Person steht auch nicht das Argument entgegen, dass man das Andenken eines Toten ehren sollte oder seine Taten ihn zurechnen sollte, denn Person ist bei Scheler ein Aktzentrum und das besteht nur aus einzelnen Akten, Tote aber können keine geistigen Akte mehr ausführen - es sei denn, man nimmt ein imaginiertes Jenseits an).

In der widersprüchlichen Konstruktion, die im Verhältnis des geistigen Wertes der sittlichen Gerechtigkeit und der vitalen Werte des positiven Rechts besteht, zeigt sich der Idealismus der gesamten Wertphilosophie Schelers. Einigermaßen schlichten ließe sich der Widerspruch nur, wenn man den geistigen Wert Gerechtigkeit als unverbindliches Ideal ansieht – dann wäre er aber bloße Propaganda oder Manipulationsmittel, in Schelers Kriegsapologie würde er dann zur Ideologie. Zwar liegt hinter diesem Widerspruch das objektive Problem jeder Stände- oder Klassengesellschaft, dass ihre Moral sich regelmäßig an den gesellschaftlichen Verhältnissen blamiert, aber Scheler will diese Tatsache gar nicht rational durchdringen, sondern er verschleiert sie durch irrationale und widersprüchliche Konstruktionen seiner ontologisierenden Axiologie. Bezieht man die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft ein, dann zeigt sich, dass die Schelersche Konstruktion seines sittlichen Wertes „Gerechtigkeit“ ein Ideologem ist, dessen objektiver Zweck die Legitimation der Klassengesellschaft mit ihren Brutalitäten darstellt. (Siehe abschließende Kritik 3.1. ind 3.2.) Dies lässt sich an seiner Apologie des Krieges zeigen.

Zurück zum Anfang des Kapitels

Zurück zum Anfang der Seite

Zurück zur Inhaltsübersicht

Weiter zu Teil 6

Divider Linie

Wenn Sie uns Ihren Kommentar schreiben
wollen, können Sie dies über unser:

Feedback-Formular

 

Zum Impressum

© Copyright:

Alle Rechte liegen beim Verein zur Förderung des dialektischen Denkens e.V. und der Zeitschrift Erinnyen.
Die Rechte des wissenschaftlichen Beitrags: Kritik der Wertphilosophie III, liegen allein beim Autor.

Letzte Aktualisierung:  08.05.2007