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2. Die Schelersche materiale 2. 1. Materiale Werte 2. 1.1. Zur Bestimmung materialer Werte Nach der Werttheorie der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus sind Werte etwas Geistiges, die in einer eigenen Sphäre des Geltens angesiedelt sind. Diese Richtung lehnt eine Ideensphäre, die einen eigenen Seinsbereich, der unabhängig vom menschlichen Denken gedeutet wurde, ab, weil dieser nicht rational begründbar ist. Wenn Scheler schon im Titel seiner Ethik materiale Werte anspricht, dann kann er sie weder in einer Geltungssphäre des Denkens noch einfach in der Seinssphäre ansiedeln, die nichts mit dem Menschen zu tun hat, will er nicht als ein Epigone bereits kritisierter oder aus der bürgerlichen Philosophiemode gekommener Konstruktionen gelten. Scheler geht von der Phänomenologie Husserls aus, die angeblich vom denkenden Subjekt unabhängige ontologische Bestimmungen erkennen kann – ein Widerspruch in sich, da erkennen denken ist und ontologische Bestimmungen auf der phänomenologischen Methode beruhen, also einer Denktechnik. Da jedoch jede Philosophie ontologische Prämissen machen muss, wäre dieser Widerspruch hinzunehmen, wenn denn die phänomenologische Methode tatsächlich ontologische Bestimmungen zu erkennen in der Lage wäre. Hatte Kant sich dagegen gewehrt, moralische Prinzipien (das Moralgesetz) auf psychologischen oder geschichtlichen Erfahrungen zu gründen oder aus der Wirklichkeit seiner Zeit zu erschließen, weil eine solche Moralbestimmung nicht verallgemeinerbar und heteronom sowie nicht mit Notwendigkeit gelten kann, so ist sie nach Scheler deshalb bloß formal und nicht „in das Leben des Menschen“ eingebaut, also kaum zu vermitteln. In dieser Kritik drückt sich indirekt die Erfahrung aus, dass die Tendenz zur vernünftig bestimmten Moralität, die Kant postulierte, auch 100 Jahre nach seinem Tod noch keine Fortschritte gemacht hat. Dies liegt aber nicht an der Vernunftmoral Kants, sondern an den antagonistischen Verhältnissen, die Moralität in der Gesellschaft verhindern und immer mal wieder zur Barbarei (wie den 1. Weltkrieg) führen. Ob dem bloß eine andere Art der Ethik abhelfen kann, ist äußerst zweifelhaft. Damit Werte allgemein und notwendig begründet sind, kann eine materiale Wertethik sie nicht direkt von wirklichen Güterdingen, d.h. „Wertdingen“ (Ethik, S. 4), ableiten. Denn wirkliche Güter sind in ständiger Veränderung begriffen und können auch zerstört werden – sie sind also immer auch zufällig. Derart gewonnene materiale Werte wären bloß empirisch und setzten sich zu Recht dem Relativismusvorwurf aus, sodass für eine objektive Ethik, die Scheler anstrebt, nichts gewonnen wäre. Auch Zwecke könnten noch Scheler keine materialen Werte mit allgemeiner Gültigkeit begründen, da Zwecke antizipierte Ursachen eines Gutes sind, das nur erst der Möglichkeit nach, nicht aber wirklich vorhanden ist. Moralisch gut kann nach Scheler nur das Wollen sein, das einen Zweck realisieren will, nicht aber der Zweck selbst (a.a.O., S. 5). „Indem Kant von den wirklichen Güterdingen bei der Begründung der Ethik abzusehen versucht, und dies mit Recht, meint er ohne weiteres auch von den Werten absehen zu dürfen, die sich in den Gütern darstellen. Dies aber wäre nur dann richtig, wenn die Wertbegriffe, anstatt in selbständigen Phänomenen ihre Erfüllung zu finden, von den Gütern abstrahiert wären; oder aber, wenn sie erst aus den tatsächlichen Wirkungen der Güterdinge auf unsere Zustände von Lust und Unlust ablesbar wären.“ (Ethik, S. 6) Dagegen will Scheler Werte als „selbständige Phänomene“ bestimmen, die sich zwar an den Gütern mittels der phänomenologischen Methode aufweisen lassen, aber die nicht mit der Wirklichkeit der Güter zusammenfallen. „Wie ich mir ein Rot auch als bloßes extensives Quale z. B. in einer reinen Spektralfarbe zur Gegebenheit bringen kann, ohne es als Belag einer körperlichen Oberfläche, ja nur als Fläche oder als ein Raumartiges überhaupt aufzufassen, so sind mir auch Werte, wie angenehm, reizend, lieblich, aber auch freundlich, vornehm, edel, prinzipiell zugänglich, ohne daß ich sie mir hierbei als Eigenschaften von Dingen oder Menschen vorstelle.“ (Ethik, S. 7) Damit wir „Werte“ erkennen können, müssen wir von dem Komplex von Empfindungen, die mit den jeweiligen Dingen verbunden sind, absehen, um nur den Wert selbst erschauen zu können. So sagt Scheler über ethische Werte: „Daß ein Mensch oder eine Handlung ‚vornehm’ ist oder ‚gemein’, ‚mutig’ oder ‚feige’, ‚rein’ oder ‚schuldig’, ‚gut’ oder ‚böse’, das wird uns nicht erst durch konstante Merkmale an diesen Dingen und Vorgängen, die wir angeben können, gewiß, noch besteht es gar in solchen. Es genügt unter Umständen eine einzige Handlung oder ein einziger Mensch, damit wir in ihm das Wesen dieser Werte erfassen können.“ (Ethik, S. 9) Nicht ein Mensch mit einer guten Eigenschaft ist gut, sondern allein der Wert des Guten, der sich an einem konkreten Menschen zeigt, kann allein gut genannt werden. Werte werden aber nicht aus den Gütern (einschließlich der Menschen) erschlossen oder verallgemeinert oder abgeleitet oder sonstwie mittels logischer Operationen bestimmt, sondern sie können nur mittels der phänomenologischen Methode zur Anschauung gebracht werden. Im Gegenteil gilt: Dieser anschaulich gegebene Wert ist die Voraussetzung der empirischen Forschung und ihrer denkenden Bewältigung. Werte sind deshalb materiale Qualitäten, die sich an den Gütern (Wertdinge bzw. Menschen, die Träger von Werten sind) zeigen, die aber nicht mit den empirischen Gegenständen zusammenfallen, sondern einen eigenen Bereich des Seins ausmachen. Zurück zum Anfang des Kapitels „Aus dem Gesagten geht hervor, daß es echte und wahre Wertqualitäten gibt, die ein eigenes Bereich von Gegenständen darstellen, die ihre besonderen Verhältnisse und Zusammenhänge haben und schon als Wertqualitäten z. B. höher und niedriger usw. sein können. Ist aber dies der Fall, so kann zwischen ihnen auch eine Ordnung und eine Rangordnung obwalten, die vom Dasein einer Güterwelt, in der sie zur Erscheinung kommen, desgleichen von der Bewegung und Veränderung dieser Güterwelt in der Geschichte ganz unabhängig und für deren Erfahrung ‚a priori’ ist.“ (Ethik, S. 10) Allgemein sind Werte materiale Qualitäten, die einer eigenen Seinssphäre angehören. Dies gilt auch für die ethischen Werte. „Alle Werte (auch die Werte ‚gut’ und ‚böse’) sind materiale Qualitäten, die eine bestimmte Ordnung nach ‚hoch’ und ‚nieder zueinander haben; und dies unabhängig von der Seinsform, in die sie eingehen, ob z. B. als pure gegenständliche Qualitäten oder als Glieder von Wertverhalten (z. B. Angenehm- oder Schönsein von etwas) oder als Teilmomente in Gütern, oder als Wert, den ‚ein Ding hat’, vor uns stehen.“ (Ethik, S. 12) Die Schwierigkeit, die Schelerschen Werte zu begreifen, liegt in ihrer Seinsweise. Dass materiale Qualitäten an den Sachdingen und Menschen feststellbar sind, ist eine geläufige Vorstellung. Löst man diese materialen Qualitäten von den Dingen, an denen sie erscheinen, ab, dann sind dies nach der philosophischen Tradition Abstraktionsprodukte, die logisch der Kategorie der Qualität unterstehen. Was aber soll ein eigener Seinsbereich für diese materialen Qualitäten als „Werte“ bedeuten? Scheler sagt: „Auch die Bedeutung des Gegenstandes, ‚was’ er in dieser Hinsicht ist (ob z. B. ein Mensch mehr ‚Künstler’ oder ‚Philosoph’ ist) mag beliebig schwanken, ohne daß uns dabei sein Wert mitschwankt. In solchen Fällen offenbart sich sehr klar, wie unabhängig im Sein die Werte von ihren Trägern sind.“ (Ethik, S. 13) Die Ablösbarkeit der Qualitäten von ihren Trägern lässt sich auch zwanglos mit ihrer Geltung als Abstraktionsprodukte oder als erschlossene materiale Qualitäten vereinbaren, die dann als Allgemeinbegriffe oder Ideen (Vernunftbegriffe) unabhängig von den empirischen Gegenständen sind, aus denen sie erschlossen wurden oder für die sie regulativ gelten sollen. Sie müssen deshalb noch nicht als „unabhängig im Sein“, d. h. als ontologische bestimmt werden. Wie dieser eigene Seinsbereich gedacht werden soll, da nach der traditionellen Ontologie Qualitäten nicht für sich existieren können, sondern nur an Substanzen oder Wesensdingen, bleibt bei Scheler zunächst schleierhaft. Könnte eine Qualität für sich, also substanziell, existieren, dann gäbe es Qualitäten von Qualitäten, aber keine Wesensbestimmungen mehr – das aber will Scheler nicht. Letztlich muss er auf Denkmodelle des Rationalismus und einen Gott zurückgreifen, dessen Modi die Werte sind (siehe unten 2.11.). Im ersten Kapitel seiner materialen Wertethik findet sich keine Begründung, warum Werte nicht Abstraktionsprodukte, sondern ein ontologisches Sein darstellen sollen. Es wird von Scheler immer nur die Differenz von empirischen Qualitäten zum speziellen Begriff der Qualität hervorgehoben. „So wenig die Farbe Blau rot wird, wenn sich eine blaue Kugel rot färbt, so wenig werden die Werte und ihre Ordnung dadurch tangiert, daß sich ihre Träger im Wert ändern. Nahrung bleibt Nahrung, Gift bleibt Gift, welche Körper auch für diese oder jene Organisation vielleicht zugleich giftig und nahrhaft sind. Der Wert der Freundschaft wird nicht angefochten dadurch, daß sich mein Freund als falsch erweist und mich verrät.“ (Ethik, S. 14) Auch die an Platon erinnernde Formulierung, Werte seien „ideale Objekte“ (S. 16), Nicolai Hartmann spricht später vom „idealen Sein“, ist zunächst nur behauptet. Ebenso der Vorteil, den eine materiale Wertethik bieten würde, nämlich inhaltliche Werte zu besitzen, ohne dem Wertrelativismus zu verfallen, kann kein Argument sein. Denn ein Begründungsbedürfnis ist selbst bereits relativ zum Individuum, seiner Klasse oder zur bürgerlichen Gesellschaft, aber keine objektive Begründung, die Scheler angeblich anstrebt. Seine eigentliche Begründung liefert Scheler unter dem Begriff „Apriorismus“. Das Apriorische ist nicht wie bei Kant das Kategoriale, sondern ein seiendes Apriorisches, ein „Unmittelbares“, eine „intellektuelle Anschauung“, ein „intuitiver Gehalt“ (Ethik, S. 47), der „weder verifiziert noch widerlegt werden“ könne (a.a.O., S. 44). Zurück zum Anfang des Kapitels „Phänomenologische Erfahrung in diesem Sinne kann durch zwei Merkmale noch scharf geschieden werden von aller andersartigen Erfahrung, z. B. der Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und der Wissenschaft. Sie allein gibt die Tatsachen ‚selber’ und daher unmittelbar, d. h. nicht vermittelt durch Symbole, Zeichen, Anweisungen irgendwelcher Art. So z. B. ist ein bestimmtes Rot auf die mannigfaltigste Weise zu bestimmen. Z. B. (...) als in einer bestimmten Ordnung, z. B. des Farbenkegels, bestimmt; als Farbe, die ‚ich eben sehe’; als die Farbe dieser Schwingungszahl und Form usw. (...) Die phänomenologische Erfahrung aber ist diejenige, in der die jeweilige Gesamtheit dieser Zeichen, Anweisungen, Bestimmungsarten ihre letzte Erfüllung finden. Sie allein gibt das Rot ‚selbst’. Sie macht aus dem x einen Tatbestand der Anschauung. Sie ist gleichsam die Einlösung aller Wechsel, welche die sonstige ‚Erfahrung’ zieht.“ (Ethik, S. 45) Die phänomenologische Erfahrung soll also die seiende Bedingung für die Wahrnehmung und die Realitätsbegriffe sein, die aus der Wahrnehmung erschlossen werden. Sie ist die seiende Bedingung der Möglichkeit, überhaupt empirische Wirklichkeitserfahrung zu machen. Scheler geht zurecht davon aus, dass unsere empirisch gewonnenen Begriffe etwas an der extramentalen Welt treffen müssen, wenn sie ein wahres Bewusstsein sein sollen. Ob eine aus empirischen Beobachtungen gebildete Theorie über einen Gegenstandsbereich wahr ist, kann aber letztlich nur ihre Anwendung in der Praxis zeigen (Wertphilosophie II, S. 30 f.). Was aber in diesem Zusammenhang das Resultat der „phänomenologischen Erfahrung“ leisten soll, bleibt schleierhaft, zumal es jenseits der Zeichen und Symbole, also der Sprache, sein soll und das Phänomen „selbst“ geben soll – im Widerspruch zu Scheler Beispielen, die ständig das Phänomen benennen, wie z. B. Rot. Wenn gilt, dass apriorische Seinsgehalte nicht wahrgenommen, sondern nur „aufgewiesen werden“ (Ethik, S. 45) können, dann muss das phänomenologische Verfahren letzte Auskunft geben, ob die materiale Wertethik vor der Vernunft bestehen kann (siehe dazu 2.3. - 2.5.). Scheler wendet sich gegen die neukantianische Bestimmung, das noch nicht Erkannte oder für uns Unerkennbare als „Chaos“ (Ethik, S. 78) zu bestimmen. Sondern die Wirklichkeit ist an sich bestimmt. Und damit die Wissenschaften eine ontologische Grundlage hätten, müssten sie auf der phänomenologischen Erfahrung beruhen. Sie „vernimmt“ das materiale Apriori wissenschaftlicher Sätze, selbst der formalsten: „Apriori ‚material’ ist der Inbegriff aller Sätze“ (a.a.O., S. 49), die sich auf formal apriorische Sätze beziehen wie z. B. auf rein logische. Wenn das durch phänomenologische Erfahrung „Erschaute“ die ontologischen Tatsachen sind, die den begrifflichen Konstruktionen der Wirklichkeit allererst zu Grunde liegen, dann gilt dies analog auch für die ethischen Werte. „Was aber auf theoretischem Gebiete gilt, das gilt in weitgehender Analogie auch für die Werte und das Wollen.“ (Ethik, S. 55) Die „Wertmaterie“ wie gut und böse müsse ethischen Werturteilen, die induktiv empirisch gewonnen werden, immer schon vorausgesetzt sein, „sofern es ethische Wesenserkenntnis überhaupt gibt“ (Scheler: Ethik, S. 40). Scheler kritisiert an Kant, dass eine Moral aus reiner Vernunft bloß konstruiert sei, also keinen Grund im Seienden habe. Dieser sei durch Erkenntnis materialer Werte zu geben, damit sich die Ethik auf einen „Tatsachenkreis“ (a.a.O., S. 42) stützen könne, der durch phänomenologische Erfahrung erkannt werde. Schelers entscheidende Frage lautet: „Gibt es eine materiale Ethik, die gleichwohl 'a priori' ist in dem Sinne, daß Sätze evident sind und durch Beobachtung und Induktion weder nachweisbar noch widerlegbar? Gibt es materiale ethische Intuitionen?“ (Scheler: Ethik, S. 42 f) Dass er diese Frage mit ja beantwortet, ergibt sich bereits aus der Seitenzahl seiner materialen Wertethik. Der phänomenologisch begründete materiale Wert ist dann das materiale Apriori für die ethischen Urteile, das heißt ihr „Wahrheitskriterium“ (a.a.O., S. 44). Werte sind „unreduzierbare Grundphänomene der fühlenden Anschauung“ (a.a.O., S. 272). Sie sind unabhängig von einem „Subjekt“ oder „Ich“ (a.a.O., S. 273). Zurück zum Anfang des Kapitels 2. 1.2. Vorläufige Kritik der irrationalen Bestimmung Wenn aber die materialen Werte durch Intuition gewonnen werden, die nicht „durch Beobachtung und Induktion“ nachweisbar noch widerlegbar sind, dann wird die Gestalt der Ethik mysteriös, irrational oder ist eine bloße Behauptung. Scheler weist immer darauf hin, dass bei der empirischen Induktion ein deduktiv gewonnenes Urteil vorausgesetzt ist, ohne dass gar keine Sammlung empirischer Urteile auf eine Frage hin möglich wäre. Dieses vorausgesetzte deduktive Urteil muss aber kein apriorisch Wahres sein, denn dann könnte man sich die empirische Verifikation ersparen, sondern dazu genügt bereits eine Hypothese, die zu überprüfen ist. Mit dieser falschen Deutung der empirischen Induktion, auf die er Wissenschaft (ohne materiales Apriori) reduziert, begründet Scheler dann seine „Wesensschau“ (vgl. Scheler: Ethik, S. 44 f. Und unten unter 2.3.). Apriorische Gehalte können dementsprechend auch nicht rational begründet, sondern nur „aufgewiesen werden“ durch die „Wesensschau“ (a.a.O., S. 45). Dahinter steht die Ansicht, dass apriorische Begriffe, Prinzipien, Axiome usw. nicht anders einsichtig gemacht werden können (a.a.O., S. 45). Dies ist insofern richtig, als apriorische Bestimmungen in jedem Beweis und jeder Begründung immer schon enthalten sind, sodass ein „Circulus in definiendo“ entsteht, wollte man Apriorisches begründen. Schon vor dem „kritischen Rationalismus“ von Popper und Albert hat Scheler das „Münchhausentrilemma“ angedeutet. Aber dieses Dilemma oder Trilemma ist falsch (vgl. Gaßmann: Logik, S. 244). Prinzipien lassen sich apagogisch (indirekt) begründen aus der Unmöglichkeit ihres kontradiktorischen Gegenteils und sie werden begründet durch die Stimmigkeit der Theorie bzw. Ethik, die ihnen folgt. Scheler will dagegen als Phänomenologe materiale Werte als Wertqualitäten aus Gütern und Menschen irrational mittels Wesensschau „zur Anschauung“ bringen und ethische Urteile ontologisch fundieren durch die Wertstruktur des Seins, die als unbezweifelbar ausgegeben wird. Materiale Werte wären ein „unabhängiges Sein“ (Scheler: Ethik, S. 13), das wir durch phänomenologische Erfahrung „zur Gegebenheit bringen“ (a.a.O., S. 7) würden. Als ontologisch bestimmte sind Werte unabhängig von den denkenden Subjekten. Scheler weist explizit die Behauptung zurück, „daß das Sein der Werte ein 'Subjekt' oder 'Ich' voraussetzte, sei es ein empirisches oder ein sogenanntes 'transzendentales Ich', oder ein 'Bewußtsein überhaupt' usw.“ (Scheler: Ethik, S. 273) Als ontologische haben die Werte objektive Geltung, der sich das Individuum beugen müsse. Sie sind in einer Seinssphäre situiert, von historischen Veränderungen ausgenommen, und als Struktur gebende haben sie eine objektive vom Denken unabhängige Rangordnung und Beziehung zueinander. Zurück zum Anfang des Kapitels „Andererseits darf aber auch nicht gesagt werden, das 'Höhersein' eines Wertes 'bedeute' nur, es sei der Wert, der 'vorgezogen wird'. Denn wenn auch das Höhersein eines Wertes 'im' Vorziehen gegeben ist, so ist dieses Höhersein trotzdem eine im Wesen der betreffenden Werte gelegene Relation. Darum ist die 'Rangordnung der Werte' selbst etwas absolut Invariables, während die 'Vorzugsregeln' in der Geschichte noch prinzipiell variabel sind (eine Variation, die von der Erfahrung neuer Werte noch sehr verschieden ist). (Scheler: Ethik, S. 85 f.) Tatsächlich findet hier eine Hypostase geistiger Bestimmungen statt, deren wahrer Grund dadurch nicht mehr erkennbar ist. Diese Hypostase subjektiver Wertsetzungen zu ontologischen wird dann zusätzlich durch den „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno) verschleiert. Materiale Werte haben nicht nur einen apriorischen Gehalt, „der nie zu 'beweisen' oder in irgendeiner Form zu 'deduzieren' ist“, die phänomenologische Erfahrung gebe „die Tatsachen 'selber' und daher unmittelbar“, ihr Resultat sei „asymbolisch“, also nicht sprachlich fassbar, sondern nur in der „Anschauung“ aufzuweisen. Versprachlicht und in Sätzen ausgesprochen müssen sie werden, wenn sie denn überhaupt kommunizierbar sein sollen (a.a.O., S. 58), versprachlicht fällt das Resultat dieser Erfahrung als „Vermeintes“ mit dem „Gegebenen“ zusammen. Es sei ein „intuitiver Gehalt“, der im Apriorischen gegeben ist. Schließlich sind derart gewonnene materiale Werte „absolute“ Tatsachen (a.a.O., S. 47), die allein „einsichtig“ wären. Diese „absoluten Werte“ (a.a.O., S. 95) und ihr Zusammenhang fundieren „als Strukturgesetze und als Formgesetze“ die sinnliche Erfahrung und das ethische Bewusstsein, das sich nach ihnen richtet, weil es in seinem Wesen liege. „Jeden vorgegebenen apriorischen 'Begriff' oder 'Satz', der sich nicht durch eine Tatsache der Intuition zur restlosen Erfüllung bringen ließe, weisen wir also ausdrücklich zurück.“ (A.a.O., S. 47) Scheler überbietet noch die problematische phänomenologische Erfahrung Husserls, indem er den Grund der phänomenologischen Erfahrung der materialen Werte im „Fühlen“ ansiedelt. Er entwirft in seiner „Ethik“ einen „Apriorismus des Emotionalen“ (a.a.O., S. 61). Scheler setzt dadurch das Emotionale und das Rationale als zwei parallele Arten der Erkenntnis, wobei jedoch das Emotionale für die Bestimmung der materialen Werte allein die Erkenntnisweise ist, eine Weise die nicht rational, also irrational ist. „So aber sind auch die Wertaxiome ganz unabhängig von den logischen Axiomen und stellen mitnichten bloße 'Anwendungen' jener auf Werte dar. Der reinen Logik steht eine reine Wertlehre zur Seite.“ (A.a.O., S. 60) Da das Emotionale eine eigene Erkenntnisweise sein soll, sieht Scheler seine materiale Wertethik nicht als irrational an. Dass sie dennoch als irrational anzusehen ist, wird die Analyse seiner phänomenologischen Erfahrung im Detail zeigen. Zurück zum Anfang des Kapitels 2. 2. Zur Ontologie 2. 2.1. Einleitung: Ontologie überhaupt Der auf Aristoteles zurückgehende Realismus hatte versucht, die Struktur des Seienden im Denken zu reproduzieren. Der in der Welt inkarnierte Logos sollte im menschlichen Bewusstsein abgebildet werden: universalia sunt in rem. Indem er aber bloße Abstraktionsprodukte des Denkens zum Wesen der Dinge erklärte, blieb dieser Realismus an der Oberfläche der seienden Dinge. Wird wie im späten Mittelalter die Vorherrschaft des abstrakt Allgemeinen durch die Aufwertung individueller Tätigkeiten, Produktionen und Entdeckungen in der Ökonomie, Gesellschaft und auch der Kunst problematisch, dann ist dies ein Antrieb aus den Aporien des Abbildrealismus auf das denkende Subjekt zu reflektieren. Resultat dieser Reflexion war die Erkenntnis der konstitutiven Leistung des menschlichen Denkens bei der Erkenntnis im Nominalismus. Seither kann nichts mehr als objektiv und wahr behauptet werden, was nicht durch Denken vermittelt ist. Der Nominalismus verfiel aber in das andere Extrem der Einseitigkeit, indem er das menschliche Denken als allein konstitutiv für die Bestimmung der Dinge und ihr Wesen ausgab, während sich die Wirklichkeit zu bloß singulären Entitäten verflüchtigte, die nichts Allgemeines mehr enthalten sollten: universalia sunt nomina. Die Entwicklung der Philosophie von Descartes bis Hegel ist das Bestreben, aus dem Subjekt heraus die objektive Allgemeinheit der Erkenntnisse zu begründen. Aber erst auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Philosophie bei Hegel ist es gelungen, sowohl die Objektivität wie die Subjektivität dialektisch so miteinander zu vermitteln, dass keine auf die andere reduziert wird, so dass die systematische Entwicklung der Begriffe der Struktur der Objektivität entspricht – von Hegels idealistischen Übertreibungen einmal abgesehen. Die Marxsche Kapitalanalyse ist dann als Anwendung der Dialektik auf einen konkreten Gegenstandsbereich zu verstehen, um dessen Wesen zu begreifen, aber auch dessen Widersprüche und das Nichtidentische dieser Ökonomie zu bestimmen. Gegen dieses rationale und damit notwendig kritische Begreifen einer antagonistischen Wirklichkeit hat die bürgerliche Philosophie aus ihrem Bedürfnis heraus nach ideologischer Verbrämung der gesellschaftlichen Antagonismen Gedankengebäude entwickelt, die hinter den Stand der Vermittlung von denkendem Subjekt und Objektivität zurückfallen. (Vgl. hierzu insgesamt Haag: Ontologie, passim, besonders S. 33 f.) So vermischt Lotzes Erfindung der philosophischen Werte ontologische, theologische und gesellschaftstheoretische Gedanken eklektizistisch zu dem, was seiner durch Gratifikation und gesellschaftliche Auswahl bestimmten Meinung nach das theoretische Bedürfnis seiner Zeit erfordere. Eine Philosophie aber, die nach einem gesellschaftlichen Bedürfnis ausgerichtet ist, produziert in einer antagonistischen Gesellschaft, in der die herrschenden Gedanken die Gedanken der herrschenden Klasse sind, nicht Wahrheiten, sondern Ideologie. Sie ist dadurch trotz des Geredes von ontologischen Bestimmungen krasser Nominalismus, willkürliches Denken. (Vgl. Wertphilosophie I, S. 23 f.) Der Neukantianismus von Windelband und vor allem Rickert hat sich dagegen aller ontologischen Begründung enthalten und aus einer reinen Subjektphilosophie heraus „Werte“ begründet. Auch hier konnte nur die Willkür der letzte Grund für die Bestimmungen der Werte sein, eine Willkür, die durch die gesellschaftlichen Mechanismen zwangsläufig zu ideologischen Wertsetzungen führen musste. (Vgl. Wertphilosophie II, S. 20 ff. und 34 f.) Dieser Willkür will Scheler entgehen, aber nicht dadurch, dass er auf den avancierten Stand der Vermittlung von Subjektivität und Objektivität argumentiert, sondern indem er seine Werte ontologisch (d. h. subjektunabhängig) begründen will. Ontologisch heißt aber in seiner auf Husserl fußenden und abgewandelten Phänomenologie nicht die Bestimmung der Objektivität aus der Dialektik von Subjekt und Objekt heraus, sondern durch Ausschaltung und „Ausklammerung“ der Subjektivität des Denkens zu eruieren. Damit fällt aber das Schelersche Denken hinter die Einsicht des Nominalismus in die konstitutive Leistung der menschlichen Subjektivität bei der Erkenntnis der Welt zurück. So wenig ich mir ein materielles Ding in den Kopf pressen kann, um einen direkten Zugang (intentio recta) zu ihm zu haben, so wenig kann ich eine Bestimmung über das Seiende denken und aussprechen, die nicht zugleich auch durch Denken vermittelt ist. Dies ist nun im Einzelnen zu zeigen. Zurück zum Anfang des Kapitels 2. 2.2. Kritik an Schelers Ontologie Scheler kritisiert an Kant, dass dessen Apriorismus bloß im Subjekt angesiedelt ist. Er sei eine „pure konstruktive Erklärung des apriorischen Gehalts in den Gegenständen der Erfahrung“ (Ethik, S. 62). Im Widerspruch zu den Kant-Texten (vgl. Kant: Logik, S. 432), aber mit den Augen des Neukantianismus sagt er, die extramentale Sphäre werde angeblich von Kant als „Chaos“ (z. B. Scheler: Ethik, S. 62, 63) angesehen. Ein bloßes Chaos kann aber in uns keine begrifflichen Erkenntnisse ermöglichen. Deshalb bedürfe es einer ontologischen Fundierung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Zugang zum ontologischen, d. h. Subjekt unabhängigen, Bereich des Seienden. Richtig an diesem Gedanken von Scheler ist, dass die menschlichen Bestimmungen immer auch etwas an der ontologischen Sphäre treffen müssen. Aber von ontologischen Wesenheiten zu sprechen, ist ein Rückfall in den aristotelischen Realismus, auch wenn die Schelerschen Wesenheiten nur ein ontologisches Apriori zu den wissenschaftlichen Resultaten sein sollen. Wie im aristotelischen Realismus so werden auch bei Scheler nur Erscheinungen zur Wesenheit erklärt und dann hypostasiert zu ontologischen Gegebenheiten. Nach Karl Heinz Haag ist die entscheidende Frage an die Ontologie: Was haben die Phänomene, die als ontologische behauptet werden, mit der extramentalen Welt zu tun? (Vgl. Haag: Ontologie, S. 7) Seiendes, wie der „materiale Wert“ bei Scheler, ist zunächst nur ein Begriff, also eine Setzung des erkennenden Subjekts. Ob ihm auch unabhängig von dieser Setzung ein Bestehen zukommt, wäre zu beweisen. Ich werde aber unten zeigen, dass Scheler diesen Beweis nicht führt, sondern stattdessen von seinem Leser die Aufgabe seines Denkens abfordert, will der ihm folgen. Am bloß behauptenden und deshalb autoritären Gestus seines Philosophierens wird die Schwäche der Begründung bereits offensichtlich. Der behauptete Objektivismus, der Schelers Ethik fundieren soll, entpuppt sich als reiner Subjektivismus. Scheler kritisiert scharf den Nominalismus (vgl. Ethik, S. 171) – da sich aber seine als realistisch behaupteten materialen Werte als bloße Setzungen des Individuums Scheler erweisen werden, wird er selbst zum – jetzt allerdings selbstbewusstlosen – Nominalisten. Dieses in der Methode implizierte falsche Bewusstsein ist offen für jede Art der Begriffskonstruktion, es eignet sich deshalb vorzüglich zur Produktion von Ideologie. Als bürgerliche Ideologie entpuppen sich denn auch die Sachanalysen etwa zum I. Weltkrieg oder zur Ökonomie seiner Zeit (vgl. unten 2.9.5.). Ich habe die Kantische Kritik an jeder Art Ontologie bereits gegen Lotze angeführt (vgl. Wertphilosophie I, S. 23 f.). Auch Scheler verfällt dieser Kritik, denn was er das „Gegebene“, die „Wesenheit“, „Washeit“ usw. nennt, kann er doch nur in der Sprache, also mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen ausdrücken, die den Kategorien des Verstandes unterstehen, also kategorial bestimmt sind, also bestenfalls gattungssubjektive Deutungen der objektiven Realität sind, d. h. wissenschaftliche Resultate ergeben. Was diese „Gegebenheiten“ sonst noch sind, bleibt im Schacht von Schelers individuellem Bewusstsein stecken. Es ist an seiner Werteschau zu zeigen, dass die so gewonnenen Werte keine seienden sind, keine ontologischen Aussagen über die objektive Realität bzw. das extramentale Sein bzw. das „ideale Sein“, sondern historische Werte einer historischen Herrschaftsformation. Die Folge dieser angeblichen Ansicht von Kant, dass die ontologische Sphäre nur eine chaotische Mannigfaltigkeit wäre, nicht aber der ontologische Grund unserer Weltauffassung, sei die Haltung „des prinzipiellen Mißtrauens“ gegenüber den empirischen Menschen und der Welt als Ganzer. Zurück zum Anfang des Kapitels „Diese ‚Haltung’ kann ich nur mit den Worten einer ganz ursprünglichen ‚Feindseligkeit’ zu oder auch ‚Mißtrauen’ in alles ‚Gegebene’ als solches, Angst und Furcht vor ihm als dem ’Chaos’ bezeichnen. ‚Die Welt da draußen und die Natur da drinnen’ – das ist, auf Worte gebracht, Kants Haltung gegen die Welt, und die ‚Natur’ ist das, was zu formen, zu organisieren, was zu ‚beherrschen’ ist – sie ist ‚das Feindliche’, das ‚Chaos’ usw. Also das Gegenteil von Liebe zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe an sie“. (Ethik, S. 63 f.) Das Resultat der Liebe zur Welt wäre die Erkenntnis der Wesenheiten des Seins. „Wie die Wesenheiten, so sind auch die Zusammenhänge zwischen ihnen ‚gegeben’ und nicht durch den ‚Verstand’ hervorgebracht oder ‚erzeugt’. Sie werden erschaut und nicht ‚gemacht’. Sie sind ursprüngliche Sachzusammenhänge, nicht Gesetze der Gegenstände nur darum, weil sie Gesetze der Akte sind, die sie erfassen. ‚Apriorisch’ sind sie, weil sie in den Wesenheiten – nicht in den Dingen und Gütern – gründen, nicht aber, weil sie durch den ‚Verstand’ oder die ‚Vernunft’ erzeugt sind. Was der das Universum durchziehende Logos sei, das wird erst durch sie faßbar.“ (Ethik, S. 64) Ob der Philosoph und Wissenschaftler dabei Hass gegenüber dem Gegebenen oder Liebe zu ihm empfindet, ist eine außerwissenschaftliche Problemstellung, wie auch Scheler weiß (vgl. Kosmos, S. 38). Erkennt man aber mit Kant die volle Leistung der menschlichen Subjektivität bei der wissenschaftlichen Erkenntnis an, dann gewinnt man eine geistige Autonomie gegenüber den Erkenntnissen der Realität, die allererst die Voraussetzung für Kritik am Gegebenen oder dessen Affirmation sein kann. Schelers apriorisches Bekenntnis der „Liebe zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe“ an diese Welt enthält in sich bereits das ideologische Moment, die bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse als Teil der Welt zu affirmieren (siehe unten 2.13.). Letztlich muss sich die Wahrheit einer Theorie in der Praxis (nicht einfach im Erfolg!) zeigen. Aber „Praxis“ ist selbst ein immanent theoretischer Begriff in der Philosophie, der in einem systematischen Zusammenhang mit einer Gesellschaftstheorie stehen muss, wenn er nicht widersprüchlich sein will. Das entscheidende Kriterium für die Rationalität einer Gesellschaftstheorie sind ihre expliziten oder impliziten ethischen Prämissen. Werden die bereits falsch und widersprüchlich konstruiert, dann gibt es überhaupt kein Kriterium, nach denen tatsächliche Gesellschaften und ihre Praxis zu beurteilen sind. Der Schelersche Irrationalismus seiner Wertephilosophie, der sich ergeben hat, ist deshalb ein Aspekt der „Zerstörung der Vernunft“ (Lukács), die geistig den Faschismus ermöglicht hat, unter dem zumindest Schelers Werk und Erbe selbst gelitten hat. (Er selbst starb bereits 1928 und war unter der Herrschaft des Faschismus verpönt.) Zurück zum Anfang des Kapitels
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