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Wertphilosophie III Titel

(Teil 3)                                                                   Button nach oben  

2. 3. Phänomenologische Anschauung / Wesensschau

Was „Wesensschau“ oder „phänomenologische Erfahrung“ und das ontologische Apriori ist, lässt sich am besten durch ein längeres Zitat aus seiner "Ethik" darstellen. Diese Darstellung ist noch nicht die Wesensschau von „materialen Werten“, sondern zunächst nur die Darstellung der allgemeinen Wesensschau, wie sie auf Husserl zurückgeht und wie sie dann analog auch für das „Fühlen der Werte“ anzuwenden sei.

„Als ‚Apriori’ bezeichnen wir alle jene idealen Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der sie denkenden Subjekte und ihrer realen Naturbeschaffenheit und unter Absehen von jeder Art von Setzung eines Gegenstandes, auf den sie anwendbar wären, durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen. Also von jeder Art Setzung ist abzusehen. Sowohl von der Setzung: ‚Wirklich’ wie ‚nichtwirklich’, ‚Schein’ oder ‚wirklich’ usw. Auch wo wir uns z. B. täuschen in der Annahme, es sei etwas lebendig, da muß im Gehalte der Täuschung uns doch das anschauliche Wesen des ‚Lebens’ gegeben sein. Nennen wir den Gehalt einer solchen ‚Anschauung’ ein ‚Phänomen’, so hat das ‚Phänomen’ also mit ‚Erscheinung’ (eines Realen) oder mit ‚Schein’ nicht das mindeste zu tun. Anschauung aber solcher Art ist ‚Wesensschau’ oder auch – wie wir sagen wollen – ‚phänomenologische Anschauung’ oder ‚phänomenologische Erfahrung’. Das ‚Was’, das sie gibt, kann nicht mehr oder weniger gegeben sein - so wie wir einen Gegenstand genauer und weniger genau etwa ‚beobachten’ können, oder bald diese, bald jene Züge seiner – sondern er ist entweder ‚erschaut’ und damit ‚selbst’ gegeben (restlos und ohne Abzug, weder durch ein ‚Bild’ oder ein ‚Symbol’ hindurch) oder es ist nicht ‚erschaut’ und damit nicht gegeben. Eine Wesenheit oder Washeit ist hierbei als solche weder ein Allgemeines noch ein Individuelles. Das Wesen rot z. B. ist sowohl im Allgemeinbegriff rot, wie in jeder wahrnehmbaren Nuance dieser Farbe mitgegeben. Erst die Beziehung auf die Gegenstände, in denen eine Wesenheit in die Erscheinung tritt, bringt den Unterschied ihrer allgemeinen oder individuellen Bedeutung hervor. So wird eine Wesenheit ‚allgemein’, wenn sie identisch an einer Mehrheit sonst verschiedener Gegenstände in die Erscheinung tritt in der Form: alles, was dieses Wesen ‚hat’ oder ‚trägt’. Sie kann aber auch das Wesen eines Individuums ausmachen, ohne dadurch aufzuhören, eine Wesenheit zu sein.“ (Scheler: Ethik, S. 43)

Zur Kritik der Wesensschau

Scheler sagt: Wenn ich etwas empirisch beobachte, dann muss ich immer schon den „vorgegebenen Gehalt“ „erschaut“ haben, um der Beobachtung die gewünschte und vorausgesetzte Richtung zu geben“ (a.a.O., S. 44). Ich muss also vor der Beobachtung z. B. wissen, was „Rot“ ist, um es an den äußeren Gegenständen wahrnehmen zu können. Darin steckt die richtige Einsicht, dass jede Induktion immer schon eine Deduktion, die Sammlung empirischer Beobachtungen einen gewussten Gegenstand, der durch die Beobachtung bestätigt werden soll, voraussetzt. Dies vorausgesetzte Urteil oder der vorausgesetzte Gegenstand, der meiner empirischen Beobachtung die Richtung weist, ist in der Wissenschaft aber zunächst nur eine Hypothese, die durch die empirische Beobachtung bestätigt oder widerlegt wird. Bei Scheler ist diese notwendig anzunehmende Hypothese (will man nicht in ein trial and error der Alchemisten zurückfallen (vgl. Bulthaup: Soziale Funktion, S. 68)) aber ein objektives Apriori, sogar noch ontologisch aufgebläht und als unwiderlegbar behauptet. Nach Scheler gilt: Dieses ontologische Apriori „kann durch diese Art von ‚Erfahrung’ (nämlich die empirische, BG) weder verifiziert noch widerlegt werden.“ (Scheler: Ethik, S. 44) 

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Dies Annahme eines durch Wesensschau gewonnenen ontologischen Apriori ist zunächst nur eine Behauptung, der eine kontradiktorische Gegenbehauptung mit demselben Recht gegenüberstünde, d. h. bloße dogmatische Behauptungen widersprechen sich selbst. Daraus folgt, dass die bloß behauptete Wesenheit Produkt einer willkürlichen Setzung ist, entgegen ihrem Anspruch, ohne Setzung zu sein.

In einer auf Tauschwert und Kapital basierenden Ökonomie ist jedes ursprüngliche "Phänomen" zunächst einmal bloßer Schein (vgl. Marx: Kapital, S. 86 f.). Die Anschauung der Phänomene, wenn sie überhaupt etwas erfasst, gelangt nur zum Schein der Wirklichkeit. Schein ist nicht nichts, sondern die Oberfläche der Dinge (wie z. B. der Sonnenaufgang, während sich in Wirklichkeit die Erde dreht), zu dem Wesen der Dinge kann ein Analytiker, der im Schein befangen ist, nicht vordringen. Die wahre Wirklichkeit ist nur durch die Anstrengung des Begriffs zu fassen, dessen stringent entwickelte Genesis die notwendige Bedingung seiner Wahrheit ist. Die Wirklichkeit, die nicht Schein ist, lässt sich also nur durch das begreifende Subjekt hindurch erkennen. Insofern ist die phänomenologische Methode eine Produktion von Schein und enthält in sich bereits die Anlage zur Produktion von Ideologien, denn Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung beruht auf diesem realen Schein bzw. geht aus ihm hervor.

Schaut man sich Beispiele an für die Wesensschau, dann wird sofort deutlich, dass deren Resultate widerlegbar sind: Wie Husserl will Scheler die Wesensschau am „Rot“ erläutern. Es  soll die ontologische Grundlage für den Allgemeinbegriff ‚Rot’ wie für jede wahrnehmbare Nuance dieser Farbe sein (siehe oben). Das „Wesen rot“ soll als Gegebenes die Grundlage der Erscheinung Rot und ihrer Nuancen sein. Zunächst kann man fragen, warum nicht ein rötliches Violett oder ein Rotbraunes Resultat der „Wesensschau“ ist. Mit anderen Worten, welchen Teil der Erscheinungen ich in der Wesensschau auswähle durch Reduktion, ist völlig willkürlich. Im Farbkreis jedenfalls ist keine einzige Farbe ausgezeichnet als Wesensgrundlage der anderen Farben in ihrer Nähe. So benutzt z. B. mein Drucker Magenta, um mit anderen Farben ein bestimmtes Rot mit dieser oder jener Schattierung zu erzeugen.

Weiter soll Rot ein „ideales Sein“ darstellen, gemeint ist ein extramentales, kein inneres psychisches Sein. Das ist aber schlicht falsch. Schließt man wie Locke von den wahrnehmbaren (sekundären) Qualitäten wie „rot“ auf das dieser Qualität ontologisch Zugrundeliegende, Locke nennt dies die primären Qualitäten, dann ist „rot“ nach dem heutigen Erkenntnisstand der Physik Licht, das aus Masse (Photonen) und Bewegung (Frequenz) besteht. Die Wirkung einer bestimmten Lichtfrequenz in unserer Wahrnehmung erzeugt in uns Rot. Was die Wesensschau zum Resultat hat, ist also nichts extramental Seiendes, sondern bestenfalls psychisches Sein, das lediglich in unserem Bewusstsein ist, eine gattungssubjektive Empfindung. (Es ist z. B. experimentell erwiesen, dass Rehe bestimmte Nuancen des Rot nicht sehen, sondern nur Grautöne wahrnehmen. Die Jäger nutzen dies aus, indem sie signalfarbene Kleidung tragen, um sich vor den Kugeln ihrer Jagdkameraden zu schützen, die von den Rehen aber nur als Grauton wahrgenommen werden kann.)

Also ist das Resultat der Wesensschau „Rot“ bei Husserl und Scheler weder eine extramentale ontologische Wesenheit „Rot“ noch gehört es zum Wesen der menschlichen Psyche, wenn seine Auswahl aus dem Farbkreis bloß willkürlich ist. Angesichts dieser Kritik wird die Aufblähung der Wesensschau und ihrer Resultate zu apriori wahren und nicht widerlegbaren zur Hochstapelei. Alles und jedes ist von diesem irrationalen Grund ableitbar: die ideale philosophische Basis für Ideologie.

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2. 4.  Begründung des phänomenologischen
        Wertfühlens

Scheler übernimmt die Methode der eidetischen Reduktion von Husserl aber nur, um sie charakteristisch abzuwandeln. Die Husserlsche „phänomenologische Reduktion“, um das Wesen der Gegenstände und Sachverhalte zu schauen, soll eine rationale Methode sein.

Auch für Scheler ist die „phänomenologische Reduktion“ ein „Akt der Ideierung“, deren Ergebnis die Erkenntnis von apriorischen Bestimmungen ist, die den Einzelwissenschaften zur Grundlage dienen würden: „Für die positiven Wissenschaften, deren Feld durch die Prüfbarkeit ihrer reduzierten Sätze vermittels Beobachtung und Messung streng umgrenzt ist, bilden sie die obersten Voraussetzungen, die Axiome, die in den Grenzen der allgemeinsten Gegenstandslogik für alle Gebiete je besondere Gruppen ausmachen und die Richtung einer fruchtbaren Beobachtung, Induktion und Deduktion durch Intelligenz und diskursives Denken allererst weisen.“ (Kosmos, S. 51)  Das Grundmerkmal des menschlichen Geistes, die „Trennung von Wesen und Dasein“ (a.a.O., S. 52), setzt „Distanz“ zu den Gegenständen und Sachverhalten voraus, die bei einer Werterkenntnis aber nicht entscheidend sein kann, denn „Werte“ seien „nur im Fühlen gegeben“ (Scheler: Ethik, S. 68). Bei der Erkenntnis ethischer Werte, die ebenfalls ein Apriori unserer tatsächlichen Wertungen seien, reiche der rationale Zugang nicht mehr aus, eine emotionale Epoché wird nach Scheler notwendig. Man müsse sich auf die "alogisch-apriorische Seite des Geistes" beziehen, die "Ordre du cœr oder logique du cœr " (Scheler: Ethik, S. 59)

Scheler kritisiert deshalb Husserls Methode. Die Abstraktion von der sinnlichen Wahrnehmung meint auch "Edmund Husserl, wenn er die Ideenerkenntnis an eine ‚phänomenologische Reduktion’ knüpft, d.h. eine Durchstreichung oder ‚Einklammerung’ des zufälligen Daseinskoeffizienten der Weltdinge knüpft, um ihre ‚essentia’ zu gewinnen. Freilich kann ich der Theorie dieser Reduktion bei Husserl im einzelnen nicht zustimmen, wohl aber zugeben, daß in ihr der Akt gemeint ist, der den menschlichen Geist recht eigentlich definiert.“ (Kosmos, S. 53)  Die Person, die sich bei Scheler als Zentrum geistiger Akte (a.aO., S. 38, 43) bestimmt, hat eine emotive und voluntative Seite. Deshalb kann man Werte, wenn sie denn für das Subjekt eine Bedeutung haben sollen, nicht rein auf Sachen bezogen erkennen, wie es die Husserlsche Methode nahelegen würde. Dazu ist ein „Fühlen“ der Werte notwendig. Da die Person „nur in ihren Akten und durch sie“ ist (a.a.O., S. 48), nicht aber etwas Substanzielles, kann der Geist auch nicht „selbst irgendwelche Triebenergien erzeugen oder aufheben, vergrößern oder verkleinern. Er vermag nur je verschiedene Triebgestalten hervorzurufen, die eben das den Organismus handelnd vollziehen lassen, was er, der Geist, ‚will’.“ (A.a.O., S. 61) 

Der Geist kann deshalb auch nur „den lauernden Trieben ideen- und wertangemessene Vorstellungen gleichsam wie Köder vor Augen“ stellen, „um die Triebimpulse so zu koordinieren, daß sie das geistgesetzte Willensprojekt ausführen, in Wirklichkeit überführen“ (a.a.O., S. 62). Wenn dem so ist, dann müssen in den Trieben bereits die Werte vorhanden sein, die der Geist realisieren will; er muss sie also aus den Trieben, dem Bereich des Emotionalen erkennen - und das geht nach Schelers phänomenologischen Methode nur im Akt des Wertfühlens. Die „rationale“ Erfassung von Werten durch die Husserlsche ‚phänomenologische Reduktion“ und ‚intellektuelle Anschauung’ ist nicht möglich. Nur die Werte können das Individuum steuern, die bereits in seiner Triebstruktur angelegt sind. Der Geist oder der geistige Wille oder das Aktzentrum, d. i. die Person, kann den Menschen mit seinen Gefühlen, Trieben usw. nur zu den Werten lenken, „mit denen der Mensch sich je ‚identifiziert’“ (Kosmos, S. 64)  Also müssen sie im Fühlen bereits vorhanden sein.

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Ein weiterer Grund für die Werteschau durch Fühlen liegt in Schelers Unterscheidung von „Wachbewußtsein“ und den unbewussten Teilen der Seele. „Es ist der ganze Körper, der heute wieder das physiologische Parallelfeld der seelischen Geschehnisse geworden ist, keineswegs nur das Gehirn. Von einer so äußerlichen Zusammenbindung einer Seelensubstanz mit einer Körpersubstanz, wie sie Descartes annahm, kann gar nicht mehr ernstlich die Rede sein.“ (Kosmos, S. 73) Denkt man in der Descartesischen Dichotomie, dann übersieht man „auf der psychischen Seite die Selbständigkeit und (sicher nachgewiesene) Priorität des gesamten Trieb- und Affektlebens vor allen ‚bewußten’ Vorstellungsbildern“ (S. 73). Da nach Scheler der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist (dieser Begriff hat Karriere gemacht), der „physiologische und der psychische Lebensprozeß“ sei „ontologisch streng identisch“ (S. 73), müsse es auch eine emotionale Erkenntnisweise geben. "Es ist nämlich unser ganzes geistiges Leben - nicht bloß das gegenständliche Erkennen und Denken im Sinne der Seinserkenntnis -, das 'reine' - von der Tatsache der menschlichen Organisation ihrem Wesen und Gehalt nach unabhängige - Akte und Aktgesetze hat. Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, und das Wollen hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den es nicht vom 'Denken' erborgt, und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat." (Scheler: Ethik, S. 59)

Angelika Sander schreibt über Schelers Deutung des Satzes Le cœr a ses raisons (mit dem Herzen denken) von Pascal: „Für Scheler liegt die Betonung der Aussage darauf, daß das Herz seine eigene Vernunft besitzt. (...) Dementsprechend haben Gefühle einen eigenständigen, unableitbaren Wirklichkeitsbezug. Sie bilden eine eigene Erfahrungsart und sind weder als Trübungen des Verstandes noch als bloße psychische Niederschläge von Sinnesreizen zu verstehen. Das Fühlen besitzt eine Eigengesetzlichkeit, die von einer spezifischen Logik geprägt ist. (...) Obwohl das Gefühl nicht logisch ist, ist es doch nicht irrational und chaotisch. Das Fühlen besitzt Intentionalität, Evidenz und eine – wenngleich ‚alogische’ – apriorische, dem theoretischen Erkennen gleichwertige Gesetzlichkeit. Als eigenständige Erfahrungsart hat das Gefühl seinen eigenen spezifischen Objektbereich, für den der Verstand ‚blind’ ist. Auch die Gesetzlichkeit dieses Bereichs ist nur dem Gefühl zugänglich.“ (Sander: Einführung, S. 44 f.)  Da jedoch das Fühlen immer nur das von je einzelnen Individuen sein kann, wäre eine solches Fühlen oder eine solche Art der Erfahrung gar nicht für andere verstehbar, es sei denn das Gefühl wird in Sprache und damit rational dargestellt, dem widerspricht aber die Aussage, dass der Verstand blind sei für das Fühlen. Wäre dem so, dann wüssten wir gar nichts davon. Bei Sanders kommt hinzu, dass sie die Eigenständigkeit des Fühlens betonen kann, weil sie wie Scheler von einer festen Bestimmung des Menschen ausgeht, die letztlich nur durch einen Gott begründbar ist. Diese Nähe zur Theologie, die sie mit Scheler verbindet, veranlasst sie anscheinend zu dem folgenden Lob: „Indem Scheler an der prinzipiellen Verschiedenheit von Fühlen und Denken festhält, gelingt es ihm, die Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit der jeweiligen Erkenntnisweisen tatsächlich zu bewahren.“ (Sander: Einführung, S. 44 f.)

Die Methode Schelers, materiale ethische Werte zu bestimmen, besteht darin, sie aus dem Fühlen zu erkennen. „Werte sind uns zunächst im Fühlen gegeben.“ (Scheler: Ethik, S. 30)  Das Fühlen reicht in unser Bewusstsein hinein. Im phänomenologischen Sinn ist der „Empfindungsinhalt“ das, „was unmittelbar als ein Inhalt eines ‚Empfindens’ gegeben ist“ (a.a.O., S. 53), er zählt dazu z. B. Hunger, Durst, Schmerz, Wollust, Müdigkeit, Organempfinden (S. 53). „Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, Wollen (...)“ (Ethik, S. 59). Scheler veranschaulicht das Gefühl als „Erkenntnisgrund“ an einer Beobachtung bei Kindern: „(…) ein Kind spürt der Mutter Güte und Sorge, ohne irgendwie die Idee des Guten erfasst zu haben und mit zu erfassen, - sei es auch so vag wie immer. Und wie häufig fühlen wir an einem Menschen, der unser Freund ist, eine schöne sittliche Qualität, während wir in der Bedeutungssphäre bei unserer alten negativen Beurteilung seiner bleiben – so dass die Erscheinung jener schönen Qualität, ohne unsere intellektuelle Überzeugung über ihn zu ändern, vorüberflieht. Gegenüber der Sphäre der Nur-Bedeutungen sind also die sittlichen Tatsachen Tatsachen der materialen Anschauung, und zwar einer nicht sinnlichen Anschauung, sofern wir mit ‚Anschauung’ nicht notwendig die Bildhaftigkeit des Inhalts, sondern die Unmittelbarkeit im Gegebensein des Gegenstandes meinen.“ (Ethik, S. 166)
Es gäbe wie bei der phänomenologischen Anschauung von bildlichen Phänomenen wie z. B. „Rot“ einen Apriorismus, und zwar einen „Apriorismus des Emotionalen“ (Ethik, S. 61). Auch dieser hätte „Evidenz“, hätte eine „Exaktheit der phänomenologischen Feststellung“ (a.a.O., S. 61) und sei „evident gegeben“ (S. 66). Die phänomenologische Methode müsse man in weitgehender Analogie (S. 55) zu den Sachgehalten auch auf die Empfindungsinhalte anwenden. „Nicht anders, wie wir denselben Ton zu hören und dieselbe Farbe zu sehen meinen, und auf sie hinweisend über sie urteilen, genau so meinen wir dieselben Werte zu fühlen und nach ihnen die Sachen zu beurteilen, wenn wir von der Güte, Tüchtigkeit eines Menschen, dem schönen Charakter einer Handlungsweise reden.“ (Ethik, S. 175) 

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Bei der Wesensschau unterscheidet Scheler drei Arten:

  • Die Wesensschau, die auf Qualitäten und Sachgehalte geht. (Noema)
  • Die Wesensschau, die auf Akte geht (Noesis), und
  • Die Wesensschau, die auf Wesenszusammenhänge zwischen Akten und Sachwesenheiten gehe. Zur letzteren gehöre das Wertfühlen. (Ethik, S. 68).

Im Betrachten guter Dinge, also Dinge, an denen Werte haften, blitzt dieser Wert durch unser Fühlen auf, er tut sich uns im Fühlen kund. Da Fühlen ein Akt ist, der sich auf Gegenstände richtet, denen Werte anhaften („Güter“), können Werte auch nur im Akt des Fühlens dieser Güter „aufblitzen“. Wie es auch nicht darauf ankomme, ob das Rot an wirklichen Gegenständen erfahren wird oder bloß erahnt oder geträumt ist, so komme es auch für das Wertfühlen nicht auf die Klarheit des Gefühlten an, solange nur überhaupt der Wert vorhanden ist. „Der mit der Werterfahrung verbundene Gefühlszustand des Ich und sein Ausdruck kann bis zur Zone der Indifferenz sich vermindern, ohne daß hierdurch der Wert oder auch nur der Grad des Auffassens und Einlebens in den Wert sich mitvermindert;  so vermögen wir einen Wert, eine Tüchtigkeit, auch einen sittlichen Wert an unserem Feinde meist nur kühl – und ohne Enthusiasmus und dessen Ausdruck – zu konstatieren. Und doch ist jener Wert voll gegeben.“ (Ethik, S. 174)  Der Enthusiasmus, der dennoch angenommen werden muss, wenn das Fühlen ausschlaggebend sein soll, richtet sich also nicht auf die Nebenumstände, sondern durch die phänomenologische Reduktion allein auf den Wertaspekt eines Geschehens oder eines Gutes. Schnädelbach kommentiert den Zusammenhang von intentionalen Akten, den "Wertnoesen", und den Wertqualitäten ("Wertnoemata"): Die antisubjektivistische Pointe des gesamten Ansatzes soll durch die These erreicht werden, "daß die apriorischen Weisen der Wertintentionen sich jeweils nach der Wesensqualität der intentionalen Objekte richteten und nicht umgekehrt: wie bei Platon soll es das Liebenswerte und das Hassenswerte sein, das Liebe und Haß bedingt, während die empiristischen oder psychologischen Werttheorien die subjektiven Dispositionen des Liebens und Hassens zur Grundlage der qualitativen Bestimmung des Geliebten und Gehaßten erheben." (Schnädelbach: Philosophie, S. 227 f.)

Das Wertfühlen ist zwar alogisch, kann nicht mit logischen Denkmitteln bestimmt werden, habe aber ebenfalls wie die logisch bestimmbaren Gegenstände eine eigene Gesetzlichkeit. Die Wertschau sittlicher Werte hat eine „Exaktheit der phänomenologischen Feststellung“ (S. 61), die „evident gegeben“ (S. 66) sei.
Die phänomenologisch gefühlten sittlichen Werte seien aber kein „Ideal“, nichts „Vollkommenes“, denn „Vollkommenheit setzt die Werttatsachen voraus“ (S. 170). „Der Wert muß erblickt sein, wenn ich ihn idealisieren will, und es ist gleichgültig, ob als endliche oder unendliche Sache der betreffenden Qualität.“ (Ethik, S. 167)  Im unwillkürlichen Äußerungen des Begehrens und Fühlens findet eine „Kundgabe“ von materialen Werten statt, die Tatsachen sind, die existieren. Die Werterfahrung, die sich auf das unmittelbare Aufblitzen der Werttatsachen oder der materialen sittlichen Werte bezieht, ist nicht zu verwechseln mit dem Gefühlszustand, der mit den phänomenologisch erfahrenen Werten verbunden ist, wie das Wertfühlen an den Feinden gezeigt hat. Auch sind ethische materiale Werte nicht mit dem Streben nach ihnen gleichzusetzen, da es auch Werte gibt, die wir nicht erstreben, wie z. B.  die Erhabenheit des Sternenhimmels.

Durch das Wertfühlen eröffne sich der „absolute Seins- und Wertgehalt der Welt“ (a.a.O., S. 70). An anderer Stelle spricht Scheler vom „Sein idealer Gegenstände“ in Analogie etwa zu Zahlen (wodurch er der neukantianischen „Geltungssphäre“ von Rickert bedenklich nahe kommt, vgl. Wertphilosophie II, S. 29). Alle Notwendigkeit in ethischen Sätzen (wie etwa Kants kategorischen Imperativ, den Scheler allerdings als zu formal ablehnt) sei allein in der Wesensschau begründet. Sie hebe auch den Kantischen Unterschied von „Ding an sich“ und Erscheinung auf, weil Scheler meint, mit der Wesensschau bzw. dem Wertfühlen die ontologische Sphäre erkennen zu können (a.a.O., S. 70).

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2. 5.  Kritik der Wertbegründung durch Wertfühlen

Die Kritik, die schon gegen Husserls phänomenologische Methode vorgebracht wurde, lässt sich ebenso auf Schelers Methode des Wertfühlens anwenden. Dort wurde die phänomenologische Methode als Zirkelschluss erkannt. Dies gilt auch für Scheler. Wenn ich aus dem Strom der Gefühle abstraktiv ein Phänomen, also einen ethischen Wert, isoliere („einklammere“) und für sich betrachte und ihn dann als ontologischen ausgebe, dann muss ich diesen Wert bereits in mir zum Bewusstsein gebracht haben, also kennen. Ich erkläre dann einen Begriff in mir zur ontologischen Tatsache. In Wahrheit sind alle ethischen Werte, die Scheler als materiale Werte ausgibt, aus der philosophischen Tradition entnommen, nicht aber originär erkannt. Er müsste ein rationales Kriterium (also für alle einsehbares) angeben, um zu zeigen, welche Werte materiale und damit ontologische sind. Dies Kriterium hat er aber nicht, sondern er ersetzt es durch den Verweis auf die Unmittelbarkeit, das „Aufblitzen“ im Fühlen. Durch diesen Trick kann man sowohl das eine wie sein Gegenteil zum materialen Wert erklären – eine gedankliche Leerstelle, die letztlich dazu dient, ideologische Vorstellungen dem Bedürfnis seiner Klasse entprechend zu entwickeln. (Siehe unten Kapitel  2.13.)

Kritik der Intuition und Irrationalität in der phänomenologischen Philosophie und bei Scheler

Die phänomenologische Erfahrung oder phänomenologische Reduktion oder Wesensschau beruht vor allem auf der Intuition. Was ist damit gemeint?

Eislers „Handwörterbuch der Philosophie“ von 1913, also zu der Zeit, in der Scheler seine „Ethik“ schreibt, definiert 'Intuition' als „unmittelbare, nicht durch Erfahrung oder Schlüsse vermittelte Erfassung des Wesens einer Sache oder eines Verfahrens; unmittelbare Einsicht in eine Wahrheit, in den Wert einer Sache“ (Eisler: Handwörterbuch, S. 319).
Nach Vetters „Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe“, das neueste Werk aus der phänomenologischen Schule, hat Husserl diesen Begriff in seine Philosophie eingeführt „als terminologischer Gegensatz zur Signifikation, um die Differenz von unbefriedigter (signifikativer) Bedeutungsintension und (intuitiver) Erfüllung zu kennzeichnen“ (Vetter: Wörterbuch, S. 299). Intention sei das „Vermögen der Wesensschau“, dabei mache Husserl den Unterschied von sensualer und kategorialer Intuition. Die Intuition führe „zur adäquaten bzw. 'eigentlichen Vorstellung' (...) des Gegenstandes“. Intuition sei ein „methodischer Grundbegriff der phänomenologischen Wesenslehre".

Intuition als psychologischer Begriff wie Spontaneität und Kreativität sind Voraussetzungen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, ohne die wir kein Bewusstsein von der Welt hätten. Sie sind aber auch Voraussetzungen der Kreierung von Aberglauben, Blödsinn, Spinnerei und ideologischem Bewusstsein. Was bei einem Erkenntnisakt, bei dem immer Intuition, Kreativität und Spontaneität mit hineinspielen, wahr und was falsch ist, entscheidet das rationale Denken, indem es die neue Erkenntnis versucht in das bestehende System des Wissens sachlich widerspruchsfrei zu integrieren, gegebenenfalls dieses Wissenssystem zu modifizieren oder das intuitiv Bestimmte zu verwerfen. Entscheidend ist aber immer das rationale Denken. Bei Scheler ist es aber gerade umgekehrt: Das bereits objektivierte Wissen soll sich allein der intuitiven Erkenntnis anpassen, die Logik unbeachtet lassen und sich von dem Resultat intuitiver Wesensschau ontologisch fundieren lassen. „Jeden vorgegebenen apriorischen 'Begriff' oder 'Satz', der sich nicht durch eine Tatsache der Intuition zur restlosen Erfüllung bringen ließe, weisen wir also ausdrücklich zurück.“ (Scheler: Wertethik, S. 47)

Damit wird eine psychologische Erkenntnisweise, die subjektiv, methodisch und begrifflich nicht erklärbar ist, da sie ein Moment von Spontaneität enthält, zum Erkenntnisgrund ontologischer Bestimmung – ein Widerspruch in sich. Dies widerspricht nicht nur dem ontologisch Behaupteten, das unabhängig von unserem Denken und unserer Psyche sein soll, sondern auch  Husserls und Schelers Kritik an der Psychologie als philosophische Grundlagenwissenschaft. (Vgl. Scheler: Ethik, S. 406 f.)

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Wenn Rationalität auf den beiden Quellen der Erkenntnis, sinnliche Erfahrung und begreifendes Denken von Verstand und Vernunft, beruht, dann ist die „unmittelbare“ Erfassung des Wesens ohne diese beiden rationalen Erkenntnisquellen irrational. Da die intuitive Erkenntnis das ontologische Apriori der Wertphilosophie bei Scheler begründen soll, ist diese also auf einer irrationalen Grundlage fundiert. Schelers materiale Wertethik beruht explizit auf diesen Begriff der Intuition: „Auch das a priori Gegebene ist ein intuitiver Gehalt, nicht ein den Tatsachen durch das Denken 'Vorentworfenes', durch es 'Konstruiertes' usw. Wohl aber sind die 'reinen' (oder auch 'absoluten') Tatsachen der 'Intuition' scharf geschieden von den Tatsachen, die zu ihrer Erkenntnis eine (prinzipiell unabschließbare) Reihe von Beobachtungen durchlaufen müssen. Sie allein sind – sofern sie selbst gegeben sind – mit ihren Zusammenhängen 'einsichtig' oder 'evident'.“ (Scheler: Ethik, S. 47)

Damit erweist sich auch die materiale Wertethik als irrational bzw. auf einem irrationalen Fundament beruhend. Scheler bestätigt dieses irrationale Fundament seiner Wertlehre, wenn er sie als alogisch bestimmt: „So aber sind auch die Wertaxiome ganz unabhängig von den logischen Axiomen und stellen mit nichten bloße 'Anwendungen' jener auf Werte dar. Der reinen Logik steht eine reine Wertlehre zur Seite.“ (A.a.O., S. 60)
Dagegen muss sich jedes Bewusstsein, das auf Wahrheit und objektive Geltung seiner Urteile Anspruch macht, vor der reflektierten Vernunft ausweisen. Diese aber enthält als ihr Wesen die Logik. Die logischen Formen und Gesetze sind formale Wahrheitskriterien, sie sind zwar nicht hinreichend zur Begründung der Wahrheit, dazu muss auch die Wahrheit der inhaltlichen Bestimmungen erwiesen werden, aber die logischen Regeln sind ein negatives Wahrheitskriterium: Wer sie beachtet, denkt zumindest widerspruchsfrei, wer aber gegen sie verstößt oder sie gar missachtet oder beiseite lässt bei seiner Darstellung von Sachverhalten, der denkt auf jedem Fall falsch; seine Rede wird unverständlich und vieldeutig. Auch das Argument, die intuitiven „Tatsachen“ wären bloß als intellektuelle Anschauungen vorhanden, als solche seien sie „alogisch“, ist nicht stichhaltig. Denn als bloß „intellektuelle Anschauung“ sind sie, wenn überhaupt, in einem individuellen Bewusstsein und nicht für andere vorhanden. Ohne auf die mit der "intellektuellen Anschauung" verbundenen Probleme im deutschen Idealismus einzugehen, wo dieser Begriff bei Schelling vorkommt (vgl. Bensch: Perspektiven, Kap. II, B) 2.), so kann doch über die flapsige Weise, wie Scheler diesen Begriff zur Begründung seiner materialen Werte benutzt, gesagt werden, dass die "intellektuelle Anschauung" "indemonstrabel" (a.a.O., S. 77), "nicht beweisbar" und deren Resultat "leer" ist (a.a.O., S. 78).

Resultate der Intuition sind nicht kommunizierbar, erst wenn sie in Urteilen gefasst werden, sind sie auch für andere existent. Dass zwei Denker die gleiche Intuition haben, erwiese sich als bloßer Zufall. Ich jedenfalls gehöre nicht zu denen, die solche Intuitionen wie Scheler haben. Wenn Scheler seine Wesensschau auf Intuition, geistige Anschauung (eine contradictio in adjecto) und Alogik gründet, dann ist das Fundament seiner Philosophie falsches Bewusstsein, irrationales Denken, unverständliche Behauptung, die daraus folgenden Sätze sind Kommunikation von Nichts.

Das Logische, wie die in Sätzen darstellbaren materialen Werte, wird durch das Alogische, das Wertfühlen, begründet. Jede Begründung setzt aber das Logische immer schon voraus, sodass ein Zirkelschluss entstünde: Ich habe Werte im Bewusstsein (meist traditionelle) und interpretiere sie in das Fühlen hinein, um sie dann in Form der Wesensschau wieder aus dem Fühlen zu begründen. Scheler will diesen Zirkel vermeiden und geht von einem Unmittelbaren aus, das durch geistige Anschauung  gefunden werden soll. Dieses unmittelbare Wertfühlen ist aber immer schon vermittelt, insofern nur Kulturmenschen die höheren Werte fühlen können (vgl. 2.9.3. und 2.9.4.). Also ist das Unmittelbare nicht unmittelbar, sondern durch die Sozialisation des Wertfühlenden vermittelt. Erkennt man dies, entsteht sofort die Frage nach dem Kriterium, welche gefühlten Werte hoch oder niedrig sind, ob überhaupt etwas Gefühltes ein ideales Sein ist oder bloße Einbildung des wertfühlenden Individuums. Ein solches Kriterium kann Scheler nicht angeben, denn hätte er eins, erübrigte sich seine phänomenologische Werteschau, er wäre wieder in die Aporien des Neukantianismus, den er bekämpft, zurückgefallen. Was Scheler tatsächlich als Kriterium für den Wert eines materialen Werts angibt, sind rein formale Bestimmungen (vgl. Scheler: Ethik, S. 79 und unten 2.9.1.). Höhere und niedere Werte sollen sich durch das „Vorziehen“ bestimmen, also gerade dasjenige, was es zu begründen gälte, für das ein rationales Kriterium gefordert werden müsste, wenn es einsichtig begründet sein soll. „Vorziehen“ aber ist selbst an einen Akt des Fühlens gebunden und beruht auf der Sozialisation des wertenden Individuums. Scheler dagegen verabsolutiert das subjektive Vorziehen zur „intuitiven 'Vorzugsevidenz'“ und dessen Resultat zur „Rangordnung der Werte“, die ein „absolut Invariables“, also ein Ontologisches sein soll. (Scheler: Ethik, S. 85 f.)

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Die Bedeutung des Irrationalen in Bezug auf das Wertfühlen

Nach Scheler  stehen empirisch in der Gesellschaft Werte im Konflikt untereinander. Eines seiner Werke trägt den Titel „Vom Umsturz der Werte“. Die vorherrschende Auffassung seiner bürgerlichen Philosophiekollegen bestimmt Scheler als Wertrelativismus, alles sei nur subjektiv: „Diese moderne Grundansicht führt je nachdem zu zwei Folgerungen, die beide Ausgangspunkte der modernen Moral gebildet haben: Entweder zu einer Rechtfertigung einer völligen Anarchie in Fragen der sittlichen Beurteilung – so daß hier überhaupt nichts 'Festes' auszumachen zu sein scheint -, oder zur Annahme eines Surrogats für die echte Wertobjektivität, eines sog. Allgemeingültigen 'Gattungsbewußtseins', das seinen Zwang auf das Individuum in Form einer schlechthin gebietenden Stimme 'du sollst' geltend macht: die allgemeine Anerkennung oder 'Anerkennbarkeit' eines Wollens und Handelns als 'gut' soll die fehlende Objektivität des Wertes ersetzen.“ (Ressentiment, S. 88)  Angesichts meiner prinzipiellen Kritik an den Subreptionen und Hypostasen von Schelers phänomenologischen Methode, lässt sich diese berechtigte Kritik am Neukantianismus (etwa Rickerts) genauso gegen den Kritiker selbst wenden: Scheler rechtfertigt seine Schau von materialen Werten, die sich als irrational erweist, indem er irrationale Wertsetzungen anderer Philosophen, die ebenso unlogisch begründet sind, als nicht haltbar denunziert.

Nun ist das Bedürfnis nach festen Moralbestimmungen kein Erkenntnisgrund, wie ich schon gegen Lotze gezeigt habe (vgl. Wertphilosophie I, S. 47 f.). Wenn man also mit Scheler zwischen „echten“ Werten und „Scheinwerten“ (Ressentiment, S. 89) unterscheiden will, dann muss man ein rationales Kriterium angeben. Das einzige, was Scheler aber angeben kann, ist die Unmittelbarkeit des Gefühls, das „aufblitzen“ der Werte im Akt des Fühlens. Da dieses Fühlen aber alogisch sein soll, kann immer nur der seiner Methode folgen, der genau so fühlt wie Scheler. Das Windelbandsche „Normalitätsbewußtsein“, das selbst der Kritik verfällt (vgl. Wertphilosophie II, S. 16 ff.), wird bei Scheler noch einmal in seiner Irrationalität übertroffen, indem er ein Normalgefühl oder eine anthropologische Gefühlskonstante unterstellt, die schon den Einsichten seiner Zeit in die historische und soziale Bedingtheit des Gefühlslebens krass widersprach. Denn nur wenn es eine konstante Gefühlsgesetzlichkeit gibt, könnte die Wesensschau mittels Fühlen – wie problematisch auch immer - eine gewissen Objektivität beanspruchen.

Da bei Scheler die „Gefühlslogik“ (Sander) aber explizit nicht die Logik des menschlichen Geistes ist (und eine andere gibt es nicht!), wie sie von Aristoteles als notwendige Bedingung der Möglichkeit menschlicher Verständigung begründet wurde, ist diese Gefühlslogik nicht für andere einsichtig, wenn sie nicht so Fühlen wie Scheler. Denn verstehen kann man eine Aussage nur, wenn sie unter der diskursiven Logik steht, sonst spräche man aneinander vorbei. (Vgl. Gaßmann: Logik, u.a. S. 19 f.)   Nun ist das Fühlen, das Emotionale tatsächlich nicht etwas, das von vornherein den logischen Gesetzen gehorcht. Wenn ich es in seiner Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Eigengesetzlichkeit begreifen will, dann versuche ich es, mit logisch stimmigen Sätzen zu deuten. Erst dann kann ich etwas über das Emotionale aussagen. Für Scheler dagegen soll die Erkenntnis gerade aus dem Alogischen des Emotionalen entspringen, er muss entsprechend die Ambivalenz der Gefühle bestreiten oder sie als nebensächlich abtun und das Emotionale in einen ordo amoris, in dem die Liebe zur Welt den Hass überwiegt, ontologisieren. „Wertphänomenologie und Phänomenologie des emotionalen Lebens ist als ein völlig selbständiges, von der Logik unabhängiges Gegenstands- und Forschungsgebiet anzusehen.“ (Scheler: Ethik, S. 60)  Und in einer Anmerkung zu diesem Satz fügt er hinzu: „(...) in letzter Linie ist (...) der Apriorismus des Liebens und Hassens sogar das letzte Fundament alles anderen Apriorismus, und damit das gemeinsame Fundament sowohl des apriorischen Seinserkennens, als des apriorischen Wollens von Inhalten. In ihm, nicht aber in einem 'Primat', sei es der 'theoretischen', sei es der 'praktischen Vernunft' finden die Sphären der Theorie und Praxis ihre letzte phänomenologische Verknüpfung und Einheit.“ (Ethik, S. 60, Anm.)  Die ontologische Eigengesetzlichkeit, die nicht logisch erfassbar sein soll und doch nur mit logisch verstehbaren Sätzen ihre Resultate, die materialen Werte, darstellen kann, gäbe dann die materialen Werte als Richtlinien für unsere Handeln kund.

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Das ist kruder Irrationalismus. Wie in jedem Irrationalismus wird mit begrifflicher Sprache etwas behauptet, das den Begriffen nicht zugänglich ist, ein absolutes Jenseits sein soll. Es sei nicht logisch fassbar, aber Scheler kann es nur mit logischen Mitteln kommunizieren. Es habe seine eigene „Logik“, aber entziehe sich aller logischen Bestim19.04.2007s, der unserem Denken nicht zugänglich sei. Solche irrationalen Begründungen drücken aber tatsächlich nichts anderes aus als – Willkür. Wenn der Grund irrational ist, dann kann ich alles aus ihm herausklauben, was ich will.

Hatte die Freudsche Psychoanalyse versucht, das Unbewusste, Vorbewusste, die unerkannte Stimme der Gesellschaft in der Psyche ins Bewusstsein zu heben, dem begreifenden Denken zugänglich zu machen, damit es uns nicht ein Fremdes bleibe, das uns beherrscht und krank macht, sondern als bewusstes dem rationalen Umgang mit ihm ermöglicht, so verherrlicht Scheler das Unbewusste als unerklärbares und zugleich Grund unseres Denkens und Handelns. Er stellt sich damit auf die Seite der Antiaufklärung. Das Unbewusste wird bei Scheler zum unbestimmbaren Grund seiner Werte. Wollte Freud die Psyche der Menschen heilen von dem, was die Gesellschaft in ihr angerichtet hatte, so ontologisiert Scheler das Desaster in uns zum ordo amoris.

In seiner Unmittelbarkeitsthese und deren Resultat wird die Willkür seines Verfahrens deutlich. Was die Psyche unmittelbar empfindet, ist immer ein Vermitteltes. Das hatte schon Rickert an der Phänomenologie insgesamt kritisiert. Voraussetzung der phänomenologischen Methode ist die Trennung von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Gegenstand – dies gilt auch für Scheler. Dadurch ist die Erkenntnis des Gegenstandes aber immer schon vermittelt durch das erkennende Subjekt. „man muss in einer 'Phänomenologie', die diesen Namen verdient, entweder die Erscheinungen oder das Subjekt unmittelbar nennen und dementsprechend entweder die Phänomene oder das, wofür sie Phänomene sind, als vermittelt bezeichnen. Insofern führt schon der Begriff der Erscheinung (bei Scheler eingeklammertes „Phänomen“, BG), falls dies Wort seinen prägnanten Sinn behalten soll, ein Element in die Betrachtung ein, wodurch das Beharren beim Unmittelbaren des ungebrochenen Erlebens und seiner Anschauung von vornherein unmöglich gemacht wird.“ (Rickert: Aufsätze, S. 116)  „Das Unmittelbare wird als Gegenstand einem Ich gegenüber gestellt, welches sich auf das von ihm intuitiv Erfaßte richtet, und mit dieser Konstruktion ist dann die Sphäre der Unmittelbarkeit im Prinzip verlassen. So hat der Intuitionismus unserer Tage mehr dazu beigetragen, das Problem des Unmittelbaren zu verdecken, als es zu klären. Er arbeitet mit unbemerkten Vermittlungen.“ (A.a.O., S. 118)

Der unmittelbare Zugang zu den im Fühlen sich kundgebenden Werten, die für das Bewusstsein aufblitzen, ist in Wirklichkeit vermittelt durch die Gesellschaft, die unsere Psyche prägt. Scheler gesteht zwar zu, dass das Milieu den Menschen und sein Fühlen beeinflusst, aber er muss diesen Einfluss herunterspielen, um seine Ontologisierung des Emotionalen und um den psychischen Apparat als anthropologische Konstante zu retten (siehe nächstes Kapitel).

Meine Kritik an der Schelerschen materialen Wertethik könnte hier abbrechen: Der Patient erweist sich als innerlich tot, sein Herz schlägt nicht, der darauf aufbauende Textkörper des Vielschreibers Scheler ist dann ebenfalls eine Totgeburt. Doch ein solcher Abbruch würde die Funktion dieses Irrationalismus verkennen und ein Stück Aufklärung über den heutigen Werteunsinn verweigern. Da aus irrationaler Rede alles Mögliche folgen kann, das eine wie sein Gegenteil, eignet sich diese ontologisierende Willkür hervorragend zur Scheinbegründung von Ideologien. Es wird also zu zeigen sein, wie aus dem falschen Bewusstsein von Schelers materialer Wertbegründung notwendig falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung, das ist Ideologie, von ihm entfaltet wird.

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Letzte Aktualisierung: 19.04.2007