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(Teil 6)
2. 8.4. Die Apologie des „echten“ Krieges
und Gerechtigkeit
Im Frühjahr 1918, als die deutsche Niederlage für Prinz Max von Baden, dem späteren Reichskanzler für kurze Zeit, noch nicht abzusehen war, forderte er eine „ethische Fundamentierung unserer äußeren Politik zur Fruktifizierung (Nutzbarmachung, B.G.) unserer materiellen Macht“ (Prinz Max von Baden: Denkschrift, S. 419). Ob dieser „ethische Imperialismus“ (ebda.) durch Schelers Ethik des Krieges philosophisch begründet wird, und wenn ja, auf welche Weise eine Letitimierung mit seinem Gerechtigkeitsbegriff zu tun hat, gilt es nun zu untersuchen.
Es ist für Scheler selbstverständlich, den Krieg, „zu rechtem Ziele und auf rechte Weise geführt“, „vor dem sittlichen Gewissen und dem religiösen Sinne des Daseins und Lebens unseres Geschlechts“ zur rechtfertigen. (Scheler: Bd. 4, S. 55) Deshalb wendet er sich auch gegen die bloße Legitimation des Krieges durch Nutzen, Interessen, Militarismus oder der Aggressionsneigung, die sich in der „brutal, biologischen blonden Bestienmoral“ (a.a.O., S. 66) ausdrückt. Da er den Krieg um des Krieges willen ablehnt, ebenso wie „die einseitige und rohe Fassung des kriegerischen Ethos als bloßes Draufgängertum, bloßes 'Mutethos' und wohl gar noch irdisches, nur auf die eigene Gruppe bezogenes Herrschaftsethos", ist Scheler von den deutschen Faschisten abgelehnt worden (seine Bücher durften nach 1933 nicht mehr verlegt werden).
Seiner Kriegsapologie entsprechend wendet sich Scheler andererseits gegen den Pazifismus jeder Couleur. Der Pazifismus geht nach Scheler von der falschen Voraussetzung aus, dass alle Menschen und ihre jeweiligen Gesellschaften gleiche Rechte hätten und gleichwertig wären – unabhängig von ihrem individuellen sittlichen Wert. Nur dann könne man internationale Institutionen fordern, die einen „ewigen Frieden“ als Schiedsrichter, Gerichtshof oder Organisator herstellen und überwachen. Diese Ideen des Pazifismus beruhten auf einer Verkennung des Begriffs der Gerechtigkeit, die bei ihnen rein formal sei. Diese bloß formale Idee der Gerechtigkeit führe „nie und nimmer hinaus über eine bloß logisch-formale Ordnung und Systematisierung von Willenszwecken: "Es werde Gleichwertiges Gleichwertigem unter gleichen Umständen. Was aber zu wollen und zu tun sei und was nicht, davon sagt uns diese Idee nichts. Sie scheint uns nur dann etwas Derartiges zu sagen, wenn wir Verhaltensweisen, wie Achtung, Liebe, Wohlwollen in den Subjekten heimlich schon voraussetzen, um deren 'Gerechtigkeit' es sich handelt, bestimmte inhaltlich wertvolle Eigenschaften aber in denen, auf die sie zielt. 'Systematisch' können die Ziele des Teufels ebenso sein, wie die Ziele Gottes! Nennt man z.B. Gleiche stark hassen, quälen, bestehlen, berauben unter gleichen Umständen, sinnvoll keine 'gerechte' Handlung, so gibt man selbst zu, daß man alles 'gerechte' Verhalten gegen jemand bereits in irgendwelcher Form einer auf die Anschauung positiver Werte in ihm gegründeten Liebe verwurzelt hatte.“ (Scheler: Bd. 4, S. 59)
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Daraus ergibt sich auch der spezifisch Schelersche Begriff der Gerechtigkeit: „'Gerechtigkeit' ist eben keine neben oder gar über der Liebe stehende sittliche Grundidee, sondern nur die logische Ordnung in der Betätigung irgendeiner Art und Form von Liebe, resp. eines von Liebes-Gesinnung noch irgendwie umspannten inneren Verhaltens.“ (Scheler: Bd. 4, S. 59) Gerecht kann sich nach Scheler immer nur auf die Unterschiede der Menschen und ihrer „Gemeinschaften“ (nicht Gesellschaften) beziehen. Aus dieser teilweise schlüssigen Kritik an einer bloß formalen Gerechtigkeit folgt aber noch nicht die Schelersche Wertsetzung (oder wie er ontologisierend sagt: Wertgegebenheit) der menschlichen Unterschiede, denn diese an der Höhe des Geistes ausgerichteten Rangstufungen stehen nicht nur im Widerspruch zu Schelers Abwertung des Geistes (s. u.), sondern sind auch in sich falsch, als ob der höher stehende geistige Mensch nicht ebenso zu Brutalitäten fähig wäre wie eher geistig schlichte Menschen.
Der Verlauf des I. Weltkrieges zeigt jedenfalls keine besondere Ritterlichkeit, die nach Scheler zu einem derartig höher stehenden Wesen gehört. Aus den geistigen oder sittlichen Unterschieden der Menschen folgen auch nicht unterschiedliche Rechte der Individuen und ihrer Gemeinschaften. Denn die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz ist nicht nur eine rationale Forderung auf Grund der Bestimmung aller Individuen als Selbstzweck (Kant), sondern auch eine Bedingung für einen möglichen „ewigen Frieden“. Denn die Schelersche „Liebe“ liefe auf eine Weltdiktatur des höchsten Volkes hinaus (die philosophische Verbrämung des deutschen Griffs nach der Weltmacht), die fast automatisch den Widerstand der beherrschten Völker herausfordern müsste, also einen ewigen Krieg erzeugte. Überhaupt liefe die Schelersche Konstruktion auf das Paradoxon hinaus, dass die Liebe zum Krieg führt, um einen Zustand zu erreichen, der in „einem Maximum von Liebe auf Erden das höchste Ziel aller menschlichen Bestrebungen erblickt“ (Scheler: Bd. 4, S. 58).
Danach ist Gerechtigkeit das Verhalten, das ein Maximum an Liebe auf Erden als höchstes Ziel anstrebt. Tatsächlich führt diese Art der Liebe zum Massenmord durch Materialschlachten und Giftgaseinsätze, und das alles, damit die Menschen mehr Liebe in die Welt bringen können. Solche Verrücktheiten kann sich auch nur ein idealistischer Philosoph ausdenken!
Scheler leitet seine Apologie des Krieges allgemein aus seiner Wertlehre ab. Dabei wird einmal der Krieg aus der „Liebe“ bzw. aus dem Ordo amoris begründet, zum anderen aus der Gerechtigkeit.
Aus der Bestimmung der Gerechtigkeit, „daß unter gleichen Wertverhältnissen (!) auch gleiches Verhalten wollender Personen stattfinde“ (Scheler: Ethik, S. 377), folgt, wie oben gezeigt, nicht, dass alle Personen gleich seien – auch wenn sie alle vor dem positiven Recht faktisch als gleich gelten -, sondern die Person, die im Schelerschen Sinn höherwertig ist, kann sich auch auf ein höheres (geistiges fundiertes) Recht im Umgang mit den Personen berufen, denen weniger Recht zusteht oder die weniger wertvoll sind. Da das Personsein nicht nur das menschliche Individuum kennzeichnet, sondern auch die Nation, sie ist als Kulturgemeinschaft „geistige Gesamtperson“ (Scheler: Bd. 4, S. 62), von der das Individuum abhängt und geprägt wurde, gäbe es zwischen Nationen oder Staaten Rangunterschiede in ihrer Wertqualität. Nach Scheler rechtfertigt allein dieser Rangunterschied bereits einen Krieg. Er macht dies an einem Beispiel deutlich. „die Eroberungen Roms wurden auch zu Eroberungen eines Teiles der Welt für das höhergeartete römische Recht.“ (A.a.O., S. 64) Ähnlich legitimiert Scheler die Besetzung Polens durch Preußen.
Scheler rechtfertigt den Krieg ebenfalls aus der Liebe. Für Scheler ist die „Liebe“, wie sie oben im Kapitel über den „Ordo amoris“ charakterisiert wurde, die „Wurzel aller echten 'Objektivität' im Verhalten“, sie ist das „letzte Agens, das unseren Geist aus dem Umkreis unseres Leibes und seiner Begierdeimpulse sich heraus ins Freie, zu Dingen und Werten hinbewegen läßt“ (Scheler: Bd. 4, S. 61). Diese Liebe aber, die unsere Werterkenntnis in Gang setzt, ist nicht wertneutral, sondern wertet die Person in den Individuen wie in den Gemeinschaften. Sie ist deshalb auch keine „Disposition, anderen wohlzutun, sondern stellt „die Forderung des höheren Wertes im Gegenüber“ sowie „die Bewahrung der Geisteswürde des Anderen“, deshalb muss sie auch fähig sein zu züchtigen – bis hin zum Krieg. „Die echte Liebe aber, die nicht auf die Wünsche, sondern die Werte und die Würde des anderen Teiles und auf sein wahres 'Heil' gerichtet ist, kann auch hier nach dem Vorbilde Gottes verfahren, der weise 'züchtigt, die er liebt'. Das gilt auch noch im Völkerleben.“ (Scheler: Bd. 4, S. 60)
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Auf die realen Beziehungen der Nationen angewandt, erläutert Scheler seine Apologie des Krieges aus der Liebe am Beispiel der Annexion von Elsass-Lothringen. Diese wird nicht durch den Sieg, also durch pure Macht, gerechtfertigt, auch nicht durch eine mögliche Volksabstimmung, sondern durch die Werte, die diese Kulturlandschaft so geprägt haben, dass sie auch ohne Begründung mit der Volkssouveränität deutsch wären. „Man hat uns z.B. den Vorwurf gemacht, daß wir 1871 unsere Erwerbung der uns von Ludwig XIV. entrissenen Landesteile des Elsaß nicht von einem Plebiszit der Elsässer Bevölkerung abhängig machten. Aber die Zugehörigkeit zu einer Nation bestimmt sich nicht nach Wunsch und 'Nationalbewußtsein' der in Frage kommenden Subjekte. Sie bestimmt sich nach Art und Richtung der Arbeit, der Formung, die dieser Boden in sich aufgenommen hat und nach jenen tieferen Lebens-Schaffens-Werttraditionen, die jenseits der Oberfläche des 'Urteilsbewußtseins' und des 'Wunsches' in dieser Bevölkerung leben.“ (Scheler: Bd. 4, S. 59) Die Fehler der Schelerschen Wertphilosophie zeigen in ihrer Anwendung ihre wahren Konsequenzen: Eine autoritäre, undemokratische und elitäre Ideologie des deutschen Imperialismus. Was die legitimierten Werte sind, wird der rationalen Diskussion entzogen (ganz abgesehen von dem Anachronismus, als hätten 1871 die Politiker schon gewusst, was "Werte" im Schelerschen (oder Lotzeschen) Sinn überhaupt sind) und nur der Eingeweihte kann über Länder und Menschen verfügen.
Überhaupt ist diese Wertideologie von Scheler gegen jede Art der philosophischen Tradition gerichtet, die kosmopolitisch auf den Standpunkt der Menschheit wie jede wahre Wissenschaft argumentiert. Scheler muss diesen Standpunkt schon deshalb ablehnen, weil er die Geschichte der Philosophie zurückgedreht hat, indem er das (gattungs-)subjektive Moment in jeder Erkenntnis zugunsten seiner phänomenologischen Ontologisierung ersetzt hat. Da diese Ontologisierung falsch ist, sind auch alle darauf aufbauenden Rangunterschiede im Wert falsch bzw. irrational. Nur deshalb kann er die prinzipielle Gleichheit aller Menschen kritisieren: Gesellschaft und Menschheit sind keine Gemeinschaften, weder Kultur- noch Wertegemeinschaften, sondern bloß eine äußerliche Addition atomisierter Menschen. Gäbe es keinen Rangunterschied unter den Nationen, dann hätte jede Nation eine Stimme, die niederen Nationen könnten die höheren dominieren. „Eine auch wert- und liebesblinde Gerechtigkeit aber wäre auch blind und ohnmächtig für – die Gerechtigkeit selbst.“ (Scheler: Bd. 4, S. 61) Der Standpunkt der Menschheit dagegen wird ihm zur „Entziehung eines Liebesquantums“ für die Nation. Daraus folgt für Scheler, „daß gleichzeitig eben die Sphäre dieser höheren, alle 'Wohlfahrt' weit überragenden Werte, von Hause aus nicht allen Menschen 'gemeinsam' sind, sondern nur völkisch national oder nach Kulturkreisen differenzierten Eigenschaften, Werken und Kräften der Menschen zukommen können.“ (Scheler: Bd. 4, S. 62)
Gibt es dagegen Krieg zwischen ungefähr gleichrangige Nationen, dann sind nach Scheler ihre Rivalität und der Krieg ein „Gottesgericht“ (GW Bd. 4, S. 59). Die Höhe der Personenwerte und den Rang, den eine Gemeinschaft einnehmen kann, zeigt sich im Bereich des Sittlichen in ihrem Kriegsethos. Dieses beschreibt Scheler so: „Kriegerisches Ethos ist aber ebenso ursprünglich, wie es Mutethos ist, auch Ethos ritterlicher Selbstbeherrschung der eigenen Triebe und Opferethos; kriegerisches Ethos ist gerade nicht rohes Säbeltum, sondern ritterliches und großherziges Degenethos, das mitten im Kampf den Feind bejaht und achtet und 'Haß' und 'Neid', d.h. die spezifischen Haltungen der 'Ohnmacht ' nicht kennt; ist nicht nur Ethos des guten Befehlens, sondern auch des guten echten Gehorchens (im Gegensatz zu sklavischer, meist mit dem Bewußtsein äußerster 'Selbständigkeit' gepaarten Beeinflußbarkeit und Ansteckbarkeit durch fremdes Wollen); nicht nur Ethos der Siegesfreude, sondern auch Ethos ruhigen und stillen Duldenkönnens einer Niederlage; nicht nur irdisches Herrschaftsethos, sondern auch der Unsterblichkeit zugewandtes Ruhmesethos.“ (Scheler: Bd. 4, S. 66) Zum Ziel des Krieges kann deshalb auch nicht die Vernichtung des Gegners gehören, sondern gut Clausewitzschisch: die „Wehrlosmachung des fremden Staates“. (A.a.O., S. 56) Vergleicht man dieses ritterliche Ideal mit der typischen Wirklichkeit, dann wird das Illusionäre, Don Quixotische und Ideologische offenbar.
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2. 8.5. Die tatsächlichen Kriegsgründe
und Schelers Kriegsideologie
In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Konkurrenz der Kapitalien erzwungen durch ihr Aufeinandertreffen auf dem Markt. Ein Kapital kann nur bestehen, wenn es seine Produktivität erhöht und sich vermehrt, d.h. ausweitet, seinen Profit wieder reinvestiert. Hat die Produktion eine gewisse Größe erreicht, dann streben die Kapitale über den Binnenmarkt hinaus auf den Weltmarkt. Dies war vermehrt in Deutschland spätestens nach 1884 der Fall. Dort treffen sie aber auf fremdes Kapital und einen „Naturzustand“, wie er analog bei Hobbes beschrieben wurde, das heißt einen ungeregelten Krieg aller gegen alle. Deshalb kann ein Einzelkapital auf dem Weltmarkt nur agieren, wenn es die geballte Macht der ganzen Gesellschaft (bei Scheler „Nation“ genannt) hinter sich weiß. Der Konkurrenzkampf der Kapitale wird zum Konkurrenzkampf der Staaten. Dies setzt andererseits die Durchdringung der Staatsinteressen durch das Kapital voraus. Der höhere Rang eines Staates bemisst sich nicht nach irgendwelchen sittlichen Werten, sondern nach der Größe seiner Produktion, die sich in der Höhe der Kapitalien ausdrückt. Der sittliche Wert der Nation, wie Schelers ihn sieht, ist faktisch nur der illusionäre Schein des ökonomischen Werts, der bei ihm unter den niederen Werten der „Nützlichkeit“ rangiert. Können die Staaten ihre ökonomische Konkurrenz nicht mehr mittels Verträgen und anderen friedlichen Mitteln regulieren, kommt es zum Krieg unter ihnen. Im kapitalistischen Wirtschaftssystem sind deshalb Kriege als Fortsetzung des ökonomischen Konkurrenzkampfes mit anderen Mitteln eine ständig Möglichkeit, die zwangsläufig immer mal wieder in die Realität umschlagen muss. Kommt in Deutschland noch die Verschwisterung der Kapitalbesitzer mit dem Adel, dessen Identität durch das Militärische bestimmt wird, hinzu, dann entsteht faktisch eine besonders aggressive Tendenz, die dann zum Ersten Weltkrieg geführt hat, den Scheler moralisch als „echten Krieg“ (a.a.O., S. 56) legitimiert.
Das Schelersche Ethos, das es in den historischen Kriegen bestenfalls vereinzelt gab, die Ritter, nach denen diese Ritterlichkeit benannt wurde, entsprachen nie ihrer eigenen Propaganda, hat auch mit den Tatsachen des I. Weltkrieg nichts zu tun. Die „geistige Willenspersönlichkeit des Gegners“ wurde nicht geachtet, sondern er wurde vergast, ohne dass er sich wehren konnte, ohne dass sein Wille irgendeine Bedeutung hatte. Dass dieser Massenmord ein „Töten ohne Haß“ sei, mag vielleicht auf den einzelnen Soldaten zutreffen, nicht aber auf die Kriegspropaganda, die geradezu auf den Hass setzte (was sich u.a. in banalen Sprüchen wie diesen äußerte: „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt“).
Durch den Stand der Produktivkräfte hatten auch die entwickelten Destruktivkräfte ein Niveau erreicht, das solche Begriffe wie „ritterliche Selbstbeherrschung“, „Opferethos“, „großherziges Degenethos“ obsolet machten. Im Dauerbombardement auf die Schützengräben spielte die Kampfmoral kaum eine Rolle: Wer getroffen wurde, entschied allein der blinde Zufall. Auch den "guten echten Gehorsam" gab es kaum: Selbst wenn es diesen bei einigen kriegssozialisierten Offizieren anfangs gab, die Masse der Soldaten aus Lohnabhängigen legte eher den "Sklavengehorsam" an den Tag, indem sie sich für die Interessen ihrer Ausbeuter abschlachten ließ; bei ihnen trifft Schelers Formulieren des Sklavengehorsams zu: „meist mit dem Bewußtsein äußerster 'Selbständigkeit' gepaarten Beeinflußbarkeit und Ansteckbarkeit durch fremdes Wollen“. Und die in diesem Kriegsethos geforderte Tugend des „ruhigen und stillen Duldenkönnens einer Niederlage“ war nach der wirklichen Niederlage bei den Kriegstreibern nur eine der Dolchstoßlegende und eine der Forderung nach einem Revanchekrieg.
Wenn aber zwischen dem Schelerschen Kriegsethos und der typischen Wirklichkeit ein konträrer Gegensatz besteht, wenn der Schelersche Idealismus nichts mit der brutalen Realität moderner imperialistischer Kriege zu tun hat, dann stellt sich überhaupt die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Werten und der Wirklichkeit. Dieses Verhältnis wird in der Ethik unter dem Begriff des Sollens abgehandelt.
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2. 9. Das Sollen und die materiale Wertethik
2. 9.1. Das Sollen in der bürgerlichen Philosophie
bei Kant und Hegel
Kants kategorischer Imperativ fordert eine moralische Anstrengung von den Menschen, weil er gesehen hat, dass der Zustand der Moralität, d.h. ein Zustand des friedlichen auf Moral basierenden Umgangs der Menschen miteinander, in der die Menschen Selbstzweck sind, durch innere individuelle Dispositionen und äußere gesellschaftliche Zwänge gehemmt wird. Dennoch müsse diese moralische Anstrengung von den Menschen gefordert werden, um einen „ewigen Frieden“ zu schaffen, auch wenn die entscheidende Triebkraft für einen Fortschritt zur Moralität die Widersprüche im Wesen des Menschen und seiner Gesellschaft sind. Hegel hat diese Position kritisiert als „Ohnmacht der Tugend vor dem Weltlauf“. Nur die moralischen Forderungen seien akzeptabel, die eine Basis haben in der objektiven Sitte der Gesellschaft. Allerdings sah Hegel die Moralität in der Gesellschaft seiner Zeit als objektive Tendenz angelegt, sodass Moral als ein Moment der Sittlichkeit (Familie, Gesellschaft, Staat) ihren Platz habe. (Vgl. zum Verhältnis von Kant und Hegel den Essay von Pelzer: Studien.) Dagegen hat Marx gezeigt, dass in der kapitalistischen Gesellschaft tendenziell die Menschen zum bloßen Mitteln der Produktion von Mehrwert, der Akkumulation von Kapital gemacht werden. (Marx: Kapital I, S, 167 f., 189 f.; vgl. auch meinen Aufsatz über „Kapital und Ethik“ in „Erinnyen“ Nr. 4, 1989, S. 19 – 78) Die Geschichte bei Hegel als „Bewusstsein vom Fortschritt der Freiheit“ entpuppt sich als ein blinder Mechanismus, der von Katastrophe zu Katastrophe schlittert. Dadurch erhält die Kantische Entgegensetzung von moralischem Gesetz und sozialer Wirklichkeit wieder Bedeutung, freilich nicht in einer unmittelbaren Aufforderung, dem moralischen Gesetz in der kapitalistischen Gesellschaft zu folgen, was meist unmöglich ist, sondern als moralisches Motiv, die kapitalistischen Verhältnisse zu beseitigen, die Moralität, d.h. ein friedliches Zusammenleben, verhindern (vgl. Gaßmann: Widerstand, S. 58 f. u. 112-114).
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2. 9.2. Das Sollen in Schelers ontologischem Idealismus
Werte sind nach Scheler vom äußeren Sein unabhängig. „Werte sind in bezug auf Existenz und Nichtexistenz prinzipiell indifferent gegeben.“ (Ethik, S. 210) Alles Sollen dagegen ist auf die Existenz von Werten bezogen. Die Diskrepanz zwischen den Werten und dem Seinsollen von Werten (d.h. nicht allen Werten) kann aber nicht das letzte Wort der materialen Wertethik sein, denn dann wäre sie bloßer idealistischer Schein. Scheler muss also angeben, wie Werte durch Menschen zum Sein gebracht werden können bzw. sollen. Scheler geht dabei von drei „Axiomen“ aus, die das Verhältnis von Sein und Sollen bestimmen müssten.
- Das Sein des positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert (a.a.O., S. 210). Damit wird von ihm ausgedrückt, das zumindest bestimmte Werte in Existenz überführt werden sollen.
- Alles positiv Wertvolle soll sein, alles negativ Wertvolle soll nicht sein (ebda.). Dieses „Axiom“ ergibt sich aus dem ersten (nach meiner Reihenfolge) und betont den Übergang vom bloßen Wert zu den Gütern, also Dingen, an denen positive Werte haften.
- „Alles Sollen ist fundiert auf Werte“ (ebda.), denn ein Sollen ohne Wertbezug wäre ein leeres Sollen, da alle Handlungen des Menschen einen Wertaspekt (und sei es den der Nützlichkeit) haben. Umgekehrt gilt: Werte sind nicht auf ein ideales Sollen fundiert, sondern, gemäß der phänomenologischen Methode, uns aus dem Wertfühlen gegeben. Bei jedem Sollen könne man immer fragen, auf welchen Werten es basiert, das Sollen kann niemals von sich aus angeben, was ein positiver Wert ist (a.a.O., S. 212).
Da der Inhalt des Sollens in die Existenz überführt werden müsse, also noch nicht existiert, kann ein Sollen auch misslingen. Dies mögliche Scheitern des Sollens tangiert aber nicht den Wert, der in die Existenz überführt werden soll. Es soll hierbei das Kantwort gelten, dass „das Gute sein soll, auch wenn es niemals und nirgends geschehen wäre“ (a.a.O., S. 210). Dies ist kein Widerspruch zu der materialen Wert- und Güterethik, die von seienden Werten spricht, denn – wie oben belegt – kann der seiende Wert auch aus einem Traum erschlossen sein, Werte sind immer „ideales Sein“, unabhängig davon, ob sie an äußeren Gütern sind oder nicht sind, insofern sie nur an diesen Gütern sein könnten. Materiale Werte sind seiende in Bezug auf das menschliche geistige Fühlen.
Das Kapitel über das Sollen aus der „materialen Wertethik“ hat nun weniger die Verwirklichung der Werte zum Gegenstand, sondern den Aufweis der Belanglosigkeit des Sollens für diese Ethik. So bestimmt Scheler, dass das Sollen ursprünglich niemals das Sein des Guten meint, sondern das Nichtsein des Übels. Nur das „Nichtsein des Guten“ erzwingt ein Sollen. Damit aber unterstellt Scheler implizit die soziale Wirklichkeit als insgesamt gute, ohne dass seine Ethik die soziale Wirklichkeit als Bedingung der Wertethik und des Sollens systematisch einbezieht bzw. einbeziehen kann. Im Gegenteil, die soziale Wirklichkeit wird nach den Werten konstruiert (siehe 3.1.), sodass Scheler immer schon seine Werte in der sozialen Wirklichkeit verwirklicht sieht. Der Zirkelschluss seiner phänomenologischen Methode (siehe 2.3. – 2.5.) wird zum Zirkel seiner gesamten Weltkonstruktion: Die Werte werden (ontologisierend) aus dem vermeintlichen Sein genommen und aus den Werten wird das Sein wieder konstruiert. Dieser Zirkel, der schon bei Rickert von mir nachgewiesen wurde, unterscheidet sich vom bewusstseinsimmanenten Neukantianismus nur durch die angebliche ontologische Fundierung. In diesem Zusammenhang lobt er Hegels Kritik an Kants scheinbar abstrakter Gegenüberstellung von moralischem Sollen und sozialer Wirklichkeit, kritisiert aber die „Aufhebung und Rechtfertigung des Historischen“ bei Hegel, weil dieser seine „Werte“ aus Fakten, Menschen, Handlungen und Gütern der Geschichte angeblich abstrahiert habe. Demgegenüber werden Schelers Werte als überhistorische, absolute angesehen und aus anthropologischen Konstanten bestimmt (siehe oben 2.7.).
Seiner heteronomen Ethik entsprechend könne das Sollen auch keine „Selbstverpflichtung“ wie bei Kant sein, sondern beruhe auf einem Befehl, den der „Wert eines Nichtseienden“ dem Sollen aufzwingt. Aus dem Nichtsein eines Wertes folgt ein Streben, das sich als ideales Sollen manifestiert, dieses wiederum wird zum Befehl für das Streben nach einem bestimmten Sollen. Eine Ethik aber, die sich imperativisch gibt, unterstelle ein „konstitutives Mißtrauen in die menschliche Natur“ (Ethik, S. 216), ja in das Wesen sittlicher Akte überhaupt. Ein moralischer Befehl ist geradezu kontraproduktiv, weil er „sittlichen Trotz“ (a.a.O., S. 218) hervorruft, der sich auch gegen den Inhalt des Sollens, also gegen den Wert richtet, der verwirklicht werden soll. Das Sollen intendiert geradezu „Böses“, wenn der Befehl auf „Einsichtigkeit“ trifft und dadurch diese Art Trotzreaktion auslöst (a.a.O., S. 217).
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Aus diesen Implikationen des Sollens ergibt sich für Scheler die Aporie jedes Sollens: „Sollen setzt voraus, daß ich wisse, was gut ist. Weiß ich aber unmittelbar und voll, was gut ist, so bestimmt auch dieses fühlende Wissen unmittelbar mein Wollen, ohne daß ich durch ein 'ich soll' einen Durchgang nehmen müßte.“ (a.a.O., S. 213) Da die Werte durch das Fühlen erkannt würden, seien sie immer schon (ähnlich bei Windelband) im Individuum verankert und unmittelbar handlungsbestimmend. Faktisch führt diese Aporie des Sollens zur Anpassung an die bestehende Sittlichkeit, die immer schon als gut vorausgesetzt ist und aus einer angeblich fixen anthropologischen Struktur des Menschen begründet ist. Werte sind als materiale seiend und das Sein ist immer schon durch die Werte geprägt. Die Ethik besteht dann lediglich darin, sich dieser Werte bewusst zu machen, sich den Sitten seines Volkes anzupassen und – wie das Kapitel über Gerechtigkeit und Krieg gezeigt hat -, wenn es sein muss, für die Werte der Nation zu sterben. War in der Kantischen Idee der Pflicht als innere Nötigung noch eine Spannung zwischen der Autonomie der Person und ihrer sozialen Wirklichkeit impliziert, so bügelt Scheler diese Spannung weg und reduziert Autonomie auf die Einsicht ins Bestehende, das apriori als gut gesetzt wird. Die richtige Einsicht, dass man Liebe nicht gebieten kann, wird bei Scheler zur Behauptung, dass die Liebe zu seinen Werten allgemeine Strebenstendenz sei. „Autonomie des sittlichen Erkennens und Autonomie des sittlichen Wollens und Handelns sind daher grundverschiedene Dinge. So ist der Akt des Gehorsams ein autonomer Willensakt (im Umterschiede vom Unterliegen einer Suggestion, Ansteckung oder Nachahmungstendenz), der aber gleichzeitig fremder Einsicht folgt; er ist aber auch ein einsichtiger Akt, wenn wir einsehen, der Befehlende habe ein höheres Maß von sittlicher Einsicht als wir selbst.“ (Ethik, S. 78 Anm. 2)) Geistige Autonomie ist demnach Einsicht in die materialen Werte und in die Ranghöhe wertvoller Personen, geistige Autonomie ist Gehorsam in diese Personen, also in Scheler. Autonomie des sittlichen Handelns ist Gehorsam dem Sein der materialen Werte gegenüber, die Scheler definiert. Autonomie hingegen im Sinne Kants, die Selbstgesetzgebung des Moralgesetzes, kann es für Scheler gar nicht geben, da die materialen Werte keine Produkte der Vernunft sind, sondern des irrationalen Fühlens, also des "einsichtigen" Gehorsams dem Sein gegenüber.
Abgesehen von seiner modernen (falschen) phänomenologischen Begründung seiner materialen Werte fällt Scheler in der Konsequenz seiner Ethik nicht nur hinter den Stand des ethischen Denkens von Kant zurück, sondern auch hinter Hegel, dem er nur scheinbar näher steht, denn bei Hegel war die Sittlichkeit nicht einfach im preußischen Staat seiner Zeit verwirklicht, sondern bestenfalls in seiner Potenz, in seiner Entwicklungsrichtung (vgl. Pelzer: Hegel, S. 27). Da sich nun faktische Verstöße gegen die behaupteten herrschenden (illusorischen) Werte nicht verschweigen lassen, werden sie als Ausnahmen abgetan. „Das Medikament des Gebotes und Verbotes zu unserer normalen sittlichen Nahrung zu machen – ist Widersinn.“ (Ethik, S. 218) Sollensforderungen gehen nur an die verbohrten Uneinsichtigen oder Unbedarften. Imperative des Sollens und Normen des Handelns sind historisch variabel, während die Werte überhistorisch sind und absolut gelten. Als historisch variable können Imperative bei „Anerkennung derselben Werte“ (S. 219) sogar „entgegengesetzt“ sein, je nach der „ursprünglichen Wertrichtung des Strebens“. So müsse man beim „krankhaften Opfermut“ den Imperativ der Eigenliebe, beim krassen Egoismus den Imperativ der Fremdliebe betonen. Diese Variabilität der Imperative (des Sollens) ändere aber nichts an der allgemeinen Sittlichkeit des Bestehenden, der „Liebe zur Welt“, im Gegensatz zu einer Pflichtethik wie der von Kant, die „Mißtrauen“ und „Feindseligkeit“ „in alles 'Gegebne' unterstelle“ (Ethik, S. 63) und die „Haltung des prinzipiellen Mißtrauens von Mensch zu Mensch einnehme“ (a.a.O., S. 63/Anm. 2).
Einschätzung der Schelerschen Ethik in Bezug auf das Sollen
Der obige Widerspruch zwischen seinem Kriegsethos und den wahren moralischen Tatsachen des Krieges ist kein zufälliger Einzelaspekt in Schelers Konstruktion, keine zufällige Fehleinschätzung, sondern seiner ethischen Konstruktion als schlechter Idealismus immanent. Seine Kriegsapologie ist nicht nur aus der Situation Deutschlands nach 1914 zu erklären, sondern konsequenter Ausfluss seiner materialen Wertethik. Da seine Werte nicht mit der Wirklichkeit vermittelt sind, sondern ähnlich wie im Neukantianismus die Wirklichkeit nach den Werten gedeutet wird, kann er das „Sollen“ herunterspielen im Medium seiner wirklichkeitslosen Ethik. Scheler konstruiert die Welt, wie sie sein soll, indem er das Sollen als nebensächlich für seine Ethik abtut.
Die Abwertung des Sollens folgt aber nicht nur aus der Idealisierung der sozialen Wirklichkeit, sondern ist zugleich Produkt seiner abstrakten Vernunftethik, die sich als ontologische ausgibt. Die „materiale Wertethik“ wird scheinbar zur bloßen Deskription der Realität, während sie tatsächlich als Wunschethik das bürgerliche Bedürfnis nach geistiger Sicherheit und die Sehnsucht nach einem rückwärtsgewandten Zustand, den es doch nie gab, ausdrückt. Die willkürlich konstruierten Werte führen bei Scheler zu einer Verklärung der tatsächlichen Verhältnisse. Diese Verklärung ist nicht nur Blindheit gegenüber der wirklichen Welt, sondern beschleunigt wegen des schlechten Idealismus noch den Untergang der bürgerlichen Kultur im Geistigen, wie diese Kultur infolge des I. Weltkrieges real ihrem Ende zugeht.
Das kann nicht ohne Auswirkungen auf den Begriff des Geistes selbst sein. Jeder „Werte und Normen“-Lehrer weiß, dass Scheler den Menschen als Geistwesen bestimmt hat; dieser Begriff gehört deshalb zur Standardbestimmung des Unterrichts in den Schulen, der die Tränen der Entzückung bei einigen in die Augen treibt. Was es mit dieser Verklärung auf sich hat, ist nun zu zeigen.
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