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Wertphilosophie III Titel

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  (Teil 7)

2.10. Der Geist bei Scheler

Die traditionelle Bestimmung des Geistes

Was ist rational betrachtet Geist? Menschliches Bewusstsein, das sich als allgemeines bestimmt, wird zum Geist. Das Ich transzendiert sich und wird zum „Wir“ (Hegel: Phänomenologie, S. 145). Denkt ein singuläres Bewusstsein z.B. 5+7=12, dann akzeptiert auch ein anderes Ich diese Rechenoperation, letztlich alle rational denkenden Menschen – es sei denn, es sind Dostojewskische Spinner. Bei Kant gründet der menschliche Geist auf dem transzendentalen Bewusstsein, als transzendentales ist es aber immer nur real in einem empirischen Bewusstsein, dessen objektives Wesen es ist oder doch sein sollte. Das wahre menschliche Bewusstsein ist dann der Schnittpunkt von empirischem und transzendentalem Bewusstsein oder wie Hegel es nennt, der individuelle Geist. Als Geist enthält das Bewusstsein ein autonomes oder absolutes (unbedingtes) Moment, insofern es die Welt auf sich hin interpretiert, Ziele und Zwecke setzt, die nicht in der Natur vorkommen – auch nicht in seiner eigenen, wie z.B. moralische Zwecke. Hätte es nicht dieses absolute Moment, sondern wäre es durch einen Gott, die Materie, die natürliche und gesellschaftliche Umwelt oder durch das Gehirn vollständig bestimmt, dann wäre es an die Naturzwänge gebunden, hätte noch nicht einmal die Freiheit, diese Zwänge zu erkennen, um in sie einzugreifen und sie antizipierend zu überschreiten, etwa wenn es sich z.B. Zwecke setzt, die noch nicht realisiert sind.

Dennoch ist der Geist auf das Andere des Geistes als seine Voraussetzung bezogen. Er hat das Allgemeine der Welt zum Gegenstand, ohne die er ein Geist von Nichts wäre, also kein Geist; er ist auf die Biologie des Gehirns als seine naturale Basis angewiesen und bedarf der menschlichen Sinne, um einen Zugang zu dem zu haben, was er nicht ist: der äußeren materiellen Welt. Wäre der Geist nur das Bewusstsein objektiver Resultate des Denkens, dann wäre er rein kontemplativ. Und selbst als kontemplativer kann er nur Gegenstände denken, indem er sie in sich erzeugt oder nacherzeugt, z.B. einen Würfel in allen seinen Dimensionen, die niemals alle zugleich sichtbar sind oder gesehen werden können. Der Geist muss also als aktiver bestimmt werden und als aktiver ist er nur bestimmbar als mit einer vitalen Basis, dem Gehirn, verbunden gedachter.
Als produktiver Geist ist er aktiv-produktiv, als rezipierender Geist ist er passiv-aufnehmend, oder wie die metaphysische Tradition sagte, er ist intellectus agens und intellectus possibilis (vgl. Mensching: Allgemeine, S. 225). Der menschliche Geist konstruiert sich seine Welt immer auf sich zu, setzt sich Zwecke und dringt über den Willen auf deren Verwirklichung. Die Umgestaltung der Erdoberfläche in den letzten 300 Jahren legt genügend Zeugnis davon ab. Er kann aber nicht nur aktiv-produzierend sein, dann wäre er eine reine Aktualität und könnte keine neuen sinnlichen Eindrücke in sich aufnehmen. Da er aber auch Neues sich aneignet, Wahrnehmungen aufnimmt, um neue Begriffe zu bilden, muss er auch als passiv-aufnehmend, als Potenz, als ein Mögliches und Bestimmbares gedacht werden. Der intellectus possibilis ist nach Thomas von Aquin das Gedächtnis (vgl. Mensching, Allgemeine, S. 225).

Keines dieser Momente des Geistes darf verabsolutiert oder hypostasiert werden, wenn man einen rationalen Begriff vom Geist haben will. Weder ist er nur ein Absolutes noch bloß eine Gehirnfunktion, weder ist er nur Aktivität noch alleinige Passivität, weder ist er vollkommen frei noch vollkommen determiniert, weder ist er bloß kontemplativ noch allein als Produzierendes zu bestimmen. Welche dieser dialektisch vermittelten Gegensätze überwiegt, ist jeweils an der konkreten Gestalt des Geistes in der Geschichte zu studieren.

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Der Geist bei Scheler

Indem Scheler den Menschen als „Geistwesen“ bezeichnet, scheint er in der Tradition des gerade angedeuteten Begriffs des Geistes zu stehen. Doch seine Vorstellung von Geist ist charakteristisch verändert gegenüber dieser Tradition. Einmal weitet er den Geist aus, wenn er auch das Fühlen als nicht rationale Erkenntnisweise des Geistes ausgibt. Er definiert den Menschen als Geistwesen und überhöht dabei den Geist als das radikal andere der Natur. Zum anderen engt er ihn drastisch ein, wenn er ihm abspricht, seine Begriffe zu setzen und ihn zum bloßen Moderator des gefühlsmäßigen Dranges macht. Der Geist verliert bei Scheler gegenüber der Tradition die Einsicht in die konstitutive Leistung der menschlichen Subjektivität bei jeder Erkenntnis, die er im frühen Nominalismus gewonnen hatte, und er wird zugleich irrational und in seinen Fähigkeiten restringiert.

Dieses Charakteristische wird erst vor dem oben angedeuteten traditionellen Hintergrund deutlich. „Geist“ ist nach Scheler „alles, was das Wesen von Akt, Intentionalität und Sinnerfülltheit hat – wo immer es sich finden mag“ (Scheler: Ethik, S. 404). Dabei sind „Akte“ nichts Psychisches, sondern allein geistig. Sie sind auch kein Physisches, sondern „Akte entspringen aus der Person in die Zeit hinein“ (a.a.O., S. 403), sie sind vom Ich, das allein psychisch gedacht wird und dessen Funktionen in der Zeit sind, streng zu unterscheiden. „Funktionen sind Tatsachen in der phänomenalen Zeitsphäre und indirekt durch Zuordnung ihrer phänomenalen Zeitverhältnisse auf die meßbaren Zeitdauern der in ihnen gegebenen Erscheinungen selbst meßbar. Zu den Funktionen gehören z.B. das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, alle Arten des Aufmerkens, Bemerkens, Beachtens (nicht nur die sog. sinnliche Aufmerksamkeit), des vitalen Fühlens usw., nicht aber echte Akte, in denen etwas 'gemeint' wird.“ (Scheler: Ethik, S. 403)

Den Zusammenhang von Akt des Geistes und den Funktionen des Ichs erklärt Scheler so: Funktionen können Gegenstände von Akten sein, „wie z.B., wenn ich mir mein Sehen selbst zu anschaulicher Gegebenheit zu bringen suche“ (a.a.O.), das heißt ontologisch fundiere. „Sie können aber auch das sein, 'wohindurch' ein Akt sich auf ein Gegenständliches richtet. (...) So z.B. wenn ich einmal einen Gegenstand sehend, das andere Mal hörend, 'denselben' Urteilsakt vollziehe (d.h. einen Urteilsakt identischen Sinnes und über denselben Sachverhalt)“ (a.a.O., S. 403). Das „Zentrum“ der geistigen Akte nennt Scheler „Person“. „D.h. zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert und lebt im Vollzug 'intentionaler' Akte.“ (Wertethik, S. 405). Aus dem Gesagten folgt notwendig die strickte Unterscheidung von Ich-Funktionen und geistigen Akten.

„Daß aller Geist dann auch wesensnotwendig 'persönlich' ist und die Idee eines 'unpersönlichen Geistes' 'widersinnig' ist, folgt dann ohne weiteres aus dem früher Gesagtem. Keineswegs aber gehört ein 'Ich' zum Wesen des Geistes; und darum auch keine Scheidung von Ich und Außenwelt. Vielmehr ist Person die wesensnotwendige und einzige Existenzform des Geistes, sofern es sich um konkreten Geist handelt.“ (A.a.O., S. 404) Ich und Person „sind mithin nicht aufeinander zurückzuführen“ (a.a.O., S. 404, Anm. 2).

Das Ich könne keine Einheit in das wissenschaftliche Denken bringen, dies gehe nur durch die ontologischen „Wesenszusammenhänge“, wie sie in der phänomenologischen Erfahrung gegeben seien. Wenn der Geist aber nur „persönlich“ ist, dann entsteht zusätzlich das Problem, wie seine Resultate verallgemeinerbar, auch für andere objektiv einsehbar sind. Dies ist eine Leerstelle bei Scheler, die er nur durch die Autorität der wertvollen Persönlichkeit füllen kann, als Gehorsam in den Besseren (Ethik, S. 78, Anm. 2).

Scheler versucht die „Kopernikanische Wendung“ Kants, welche die konstitutive Leistung des menschlichen Denkens bei der Erkenntnis nachweist, zurückzudrehen zu einer ontologischen Fundierung, die er nicht rational begründen kann, wie die Kritik an der phänomenologischen Methode gezeigt hat. Damit negiert er die produktive Leistung des menschlichen Geistes und restringiert das Denken auf das irrationale Erfassen von Gegebenheiten. Diese Restringierung ist eine Negation dessen, was bei Kant Vernunft heißt, sodass das menschliche Denken, soweit es immer auch psychisch ist, auf den Verstand beschränkt wird, der dann nur Hilfsfunktion für den ontologisierten Schelerschen Geist hat. Er hat nur in Sätzen und Urteilen das auszusprechen, was wir uns im Fühlen als Wert zur Anschauung gebracht haben. „Nicht also an die Sätze (oder gar an die Urteilsakte, die ihnen entsprechen) ist das Apriori gebunden, etwa als Form dieser Sätze und Akte (...); sondern es gehört durchaus zum 'Gegebenen', zur Tatsachensphäre, und ein Satz ist nur insofern apriori wahr (resp. falsch), als er in solchen 'Tatsachen' sich erfüllt. (...) Was als Wesenheit oder Zusammenhang solcher erschaut ist, kann also durch Beobachtung und Induktion niemals aufgehoben, nie verbessert oder vervollkommnet werden.“ (Scheler: Ethik, S. 44)

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Aber auch der Schelersche Geist selbst ist restringiert in seinen Funktionen im Verhältnis zur erkannten Leistung des Geistes in der Tradition. Der Geist kann eigentlich nur passiv zusehen, wie der Drang in uns arbeitet, aber selbst nur minimal den Drang steuern. Das Gegebene wirkt in uns, kaum der Geist. Scheler macht an der Leistung großer Persönlichkeiten in der Geschichte deutlich, was der Geist selbst leistet. „Alles leidenschaftliche Wollen schon – erst recht noch höheren Formen des Wollens – lassen die gleichzeitigen oder zu erwartenden sinnlichen Gefühlszustände vollends außer der Gegebenheit. Diese Tatsachen machen es auch verständlich, daß gerade bei den mächtigsten Willenspersonen der Geschichte oder besonders energischen Gruppen schon das Bewußtsein des Ausgehens des Wollens von ihrem 'Ich' – erst recht seiner Rückwirkung auf das Ich – am wenigsten entwickelt war. Entweder sie erlebten ihre Willenswirksamkeit als 'Gnade' (z.B. die tatkräftigen englischen Puritaner wie Cromwell und sein Kreis) oder fühlten sich ganz als Werkzeuge Gottes (wie Calvin als sein 'Rüstzeug'), oder die Stadien ihres Lebens als 'Schicksal' (z.B. die tatkräftigen Araber und Türken; Wallenstein, Napoleon); oder sie fanden, daß sie nur 'Entwicklungstendenzen' gefördert oder ausgelöst hatten (wie Bismarck).“ (Scheler: Ethik, S. 57) Nun ist der Gedanke, dass in der Geschichte Führende immer auch objektive Tendenzen folgten, nicht falsch. Für Scheler ist das aber ein Beleg für die Unwichtigkeit des geistigen Wollens, er vergisst dabei, dass diese Tendenzen nur durch die Individuen hindurch wirken und deren entschiedenen Willen voraussetzen, auch wenn sie darüber kein entwickeltes Selbstbewusstsein haben.

In seiner Spätschrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ hat Scheler dann seine Auffassung von der Begrenztheit des Geistes auf den Begriff gebracht. „Der Geist ist, wie wir bereits sagten, in letzter Linie ein Attribut des Seienden selbst, das im Menschen manifest wird in der Konzentrationseinheit der sich zu sich 'sammelnden' Person. Aber als solches ist der Geist in seiner 'reinen' Form ursprünglich schlechthin ohne alle 'Macht', 'Kraft', 'Tätigkeit'. Um irgendeinen noch so kleinen Grad von Kraft und Tätigkeit zu gewinnen, muß jene Askese, jene Triebverdrängung und gleichzeitige Sublimierung hinzukommen.“ (Scheler: Kosmos, S. 55) „(...) von Hause aus und ursprünglich hat der Geist keine eigene Energie“ (a.a.O., S. 66). „Geist und Wollen des Menschen kann (...) nie mehr bedeuten als 'Leitung' und 'Lenkung'. Und das bedeutet immer nur, daß der Geist als solcher den Triebmächten Ideen vorhält, und das Wollen den Triebimpulsen – die schon vorhanden sein müssen – solche Vorstellungen zuwendet oder entzieht, die die Verwirklichung dieser Ideen konkretisieren können. (...) Ein direkter Kampf des reinen Willens gegen die Triebmächte, d.h. ohne solche Vorhaltungen von Ideen bzw. Zuwendung oder Entziehung von Vorstellungen, ist eine Unmöglichkeit.“ (Scheler: Kosmos, S. 69) Gegen die Freudsche These, dass die Triebversagung zur Sublimierung und zum Geist führe, wendet er ein: „Eben der Geist ist es, der bereits die Triebverdrängung einleitet, indem der idee- und wertgeleitete geistige 'Wille' den idee-wertwiderstreitenden Impulsen des Trieblebens die zu einer Triebhandlung notwendigen Vorstellungen versagt, andererseits den lauernden Trieben idee- und wertangemessene Vorstellungen gleichsam wie Köder vor Augen stellt, um die Triebimpulse so zu koordinieren, daß sie das geistgesetzte Willenprojekt ausführen, in Wirklichkeit überführen. Diesen Grundvorgang nennen wir 'Lenkung', die in einem 'Hemmen' (non fiat) und 'Enthemmen' (non non fiat) von Triebimpulsen durch den geistigen Willen besteht, und 'Leitung' die Vorhaltung – gleichsam – der Idee und des Wertes selbst, die dann je erst durch die Triebbewegungen sich verwirklichen.“ (Scheler: Kosmos, S. 62) Da Schelers „Werte“ Teil der Gefühlswelt sind, können sie nach diesem Schema zwanglos zur Verwirklichung kommen, ohne eine größere Anstrengung des Willens zu benötigen und ohne eine originäre Leistung des Geistes zu erfordern.
Die Reduzierung des Geistes auf bloße Steuerungsfunktion des Dranges in uns wird von Scheler nicht systematisch begründet, er kann nur Beispiele zur Erläuterung anführen, aber keine Gründe, die über seine (bereits widerlegte) phänomenologische Grundposition hinausgehen. Gegen solche überredende Beispiele lassen sich immer auch Gegenbeispiele anführen, etwa ein wohl überlegter Selbstmord, bei dem der (geistige) freie Wille gegen den Lebensdrang im Individuum dieses und sich selbst als Teil des Individuums beseitigt.

Auch immanent ist die These von der bloßen Steuerungsfunktion des Dranges in uns durch den Geist nicht haltbar. Der Geist und seine Akte, der so radikal von dem psychischen Ich getrennt wird, steht vor dem Problem, wieso er überhaupt etwas tun, etwas bewegen kann. Bereits das Vorhalten von Ideen, damit der Drang in eine Richtung gelenkt werden kann, setzt eine Eigenenergie des Geistes voraus, der doch energielos sein soll. Da der Geist an die Person gebunden ist und diese nur im Vollzug ihrer Akte als deren Zentrum ist, müsste die Person und mit ihr der Geist ständig verschwinden und beim nächsten Akt ständig wieder auferstehen. Das aber wäre kruder Mystizismus, irrationale Behauptung, die sich in die Aporien des Okkasionalismus verstricken würde.

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2.11. Schelers Theologie

Scheler löst dies Problem dogmatisch mit der Behauptung, dass der menschliche Geist ein Attribut Gottes wäre, dass ein substanzieller Gott in uns wirke und dadurch den Geist erhalte. Das einzige Argument, das er dafür anführen könnte, wäre dies: diese Behauptung folgt notwendig aus seiner Konstruktion des Geistes. Solch ein Argument lässt sich immer auch umdrehen: Da man Gott nicht beweisen kann, ist dann eben die Konstruktion falsch! Obwohl Scheler Descartes Dualismus von Seele und Körper kritisiert, lobt er ihn in Bezug auf seine Substanzialisierung des Geistes. „Wertvoll an der Lehre Descartes ist nur eines: die neue Autonomie und Souveränität des Geistes“ (Scheler: Kosmos, S. 72). Zugleich kritisiert er aber auch Descartes, indem er ihm vorwirft, dass bei ihm der Geist „auf Ratio reduziert“ sei. (A.a.O.)  Dieser Vorwurf impliziert, wie gezeigt, die Abwertung der Ratio, indem das geistige Fühlen als gleichwertig hingestellt wird.

Eine Konsequenz aus dieser Konstruktion des Geistes ist seine Vergöttlichung, die Scheler dann in seinem Buch „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928) noch einmal überhöht, indem er den menschlichen Geist zum Gott erklärt. Wenn der Geist als substanziell bestimmt wird, aber radikal von der Psyche getrennt wird, dann ist die Erhaltung dieser Substanz „Geist“ auf einen Gott angewiesen. Der Mensch kann nicht zu seiner Bestimmung gelangen, "ohne sich als Glied jener beiden Attribute des obersten Seins und dieses Seins sich selbst einwohnen zu wissen“ (Scheler: Kosmos, S. 92). Das ist der Mensch natürlich nur, wenn er die Schelersche Philosophie akzeptiert und drauf hat und seine „absoluten Werte“ (Ethik, S. 95) glaubt, denn sonst würde er ja falsch denken und kein Gott sein.

Dieser grandiosen Überhöhung des menschlichen Geistes zum Göttlichen, zu Gott in uns, korrespondiert eigenartig seine durchgängige Abwertung des Geistes. Die menschliche Ratio und die real existierende Wissenschaft werden auf bloße Hilfsfunktionen des Geistes restringiert. Ihre Resultate hätten keine eigenständige Bedeutung, sondern seien ein bloßes „Meinen“, wenn sie nicht durch die „Gegebenheiten“, die nur der phänomenologischen Methode sich verdankten, abgesichert würden. Auch ethische Werte seien keine „Setzungen“ der Vernunft oder des Verstandes, sondern seien gegeben. „Wie die Wesenheiten, so sind auch die Zusammenhänge zwischen ihnen 'gegeben' und nicht durch den 'Verstand' hervorgebracht oder 'erzeugt'. Sie werden erschaut und nicht 'gemacht'. Sie sind ursprüngliche Sachzusammenhänge, nicht Gesetze der Gegenstände nur darum, weil sie Gesetze der Akte sind, die sie erfassen. 'Apriorisch' sind sie, weil sie in den Wesenheiten – und nicht in den Dingen und Gütern – gründen, nicht aber, weil sie durch den 'Verstand' oder die 'Vernunft' 'erzeugt' sind. Was der das Universum durchziehende Λογος sei, das wird erst durch sie faßbar.“ (Ethik, S. 64)

Und wie im Menschen das „Geistwesen“ als Attribut des Seienden gedacht und durch Gott abgesichert werde, so seien auch die Werte göttlich. „Alle möglichen Werte aber sind 'fundiert' auf den Wert eines unendlichen persönlichen Geistes und der vor ihm stehenden 'Welt der Werte'. Die Werte erfassenden Akte sind selbst nur die absolut objektiven Werte erfassend, sofern sie 'in' ihm vollzogen werden, und die Werte nur absolute Werte, sofern sie in diesem Reiche erscheinen.“ (Scheler: Ethik, S. 94)

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Kritik der Schelerschen Theologie

Scheler geht richtig davon aus, das unser Welt- und Selbstbewusstsein ein Absolutes impliziert (vgl. Bensch: Perspektiven, S. 27 f.). Aus der notwendigen Bestimmung des Absoluten für das Selbstbewusstsein macht Scheler ein Seiendes. Er hypostasiert das Absolute des Geistes zum ens a se, zum Sein durch sich. „Man erfasse die strenge Wesensnotwendigkeit dieses Zusammenhangs, der zwischen dem Welt-, dem Selbst- und dem formalen Gottesbewußtsein des Menschen besteht – wobei ‚Gott’ hier nur als ein mit dem Prädikat ‚heilig’ versehenes ‚Sein durch sich selbst’ erfaßt wird, das tausendfältige bunteste Ausfüllungen annehmen kann. Die Sphäre aber eines absoluten Seins überhaupt, gleichgültig, ob sie dem Erleben oder Erkennen zugänglich ist oder nicht, gehört ebenso konstitutiv zum Wesen des Menschen wie sein Selbstbewußtsein und sein Weltbewußtsein.“ (Scheler: Kosmos, S. 88) Das Absolute ist aber nur als Bewusstsein existent, wie z.B. die transzendentale Einheit der Apperzeption, die die distributive Einheit des Erfahrungsganzen zusammenfügt. Von dieser auf die Einheit der Welt als positive Erkenntnis oder als ontologische Erkenntnis zu schließen, also die reale Einheit der Welt als „kollektive Einheit des Erfahrungsganzen“ zu behaupten, ist nach Kant eine Hypostase des Denkens. (Vgl. Kant: Kr.d.r.V., B 610 f. u. B 708)  Lediglich als regulative Idee ist dieser Gedanke rational. Scheler macht aus dem Absoluten des Bewusstseins nun ein „absolutes Sein“, sogar seine „Gottheit“, ohne triftige Argumente anführen zu können, wie überhaupt seine Philosophie von nicht beweisbaren Aussagen strotzt. Von der Denknotwendigkeit eines Absoluten im Bewusstsein auf eine Gottheit zu schließen, ist der Trick aller idealistischen Philosophie, die das Bestehende rechtfertigen und philosophisch absichern will. Bei Scheler wird sein Gott der ontologische Grund seiner Werte – ähnlich der Behauptung von Lotze und Rickert, wenn auch anders begründet.

„Im selben Augenblicke, da jenes ‚Nein, Nein’ zur konkreten Wirklichkeit der Umwelt eintrat, in welchem sich das geistige aktuale Sein und seine ideellen Gegenstände konstituierten; genau in demselben Augenblicke, da das weltoffene Verhalten und die nie ruhende Sucht entstand, grenzenlos in die entdeckte Weltsphäre vorzudringen und sich bei keiner Gegebenheit zu beruhigen; genau im selben Augenblicke, da der werdende Mensch die Methoden alles ihm vorhergehenden tierischen Lebens, der Umwelt angepaßt zu werden oder ihr sich anzupassen, zerbrach und die umgekehrte Richtung einschlug: die Anpassung der entdeckten Welt an sich und sein organisch stabil gewordenes Leben; in genau dem selben Augenblicke, da sich der ‚Mensch’ aus der ‚Natur’ herausstellte und sie zum Gegenstand seiner Herrschaft und des neuen Kunst- und Zeichenprinzips machte, - in ebendemselben Augenblicke mußte der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern. Konnte er sich doch nicht mehr als einfachen ‚Teil’ oder als einfaches ‚Glied’ der Welt erfassen, über die er sich so kühn gestellt hatte!“ (Scheler: Kosmos, S. 89)

Mit diesem quasi historischen „Gottesbeweis“ wird lediglich von der Absolutheit als Aspekt des menschlichen Geistes auf einen Gott geschlossen, der andererseits wieder die Werte Schelers legitimieren soll. Was Scheler für diese Hypostase des geistig Absoluten zum ontologischen Absoluten anführen kann, ist der „Drang nach Bergung“ (Kosmos, S. 90), also wie bei Lotze bereits ein Bedürfnis, das die Konstruktion bestimmt. Zwar sei dies zunächst individuell, dann auf die Gruppe bezogen worden „mit Hilfe des ungeheuren Phantasieüberschusses“, den der Mensch hat. Diese „Seinssphäre“ sei mit beliebigen Gestalten bevölkert, „um sich in deren Macht und Ritus hineinzubergen“ (S. 90). Und aus diesen falschen Gestalten des „ungeheuren Phantasieüberschusses“ offenbart sich Scheler dann eine eigene „Seinssphäre“, eine Idee von einem obersten „Grund-Sein der Dinge“ (S. 90). Aus dem gleichen Grund könnte man an den noch heute weit verbreiteten Aberglauben vom Schicksalsschlag, den eine schwarze Katze bewirkt, die einem über den Weg läuft, auf eine Seinssphäre des Schicksals schließen, das uns lenkt und eine Gottheit repräsentiert.

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Auch wenn Scheler die christlichen Vorstellungen von Gott ablehnt und sich auf Hegels Pantheismus bezieht, den er noch einmal versubjektiviert zur „Selbstvergottung“ des individuellen Menschen (vgl. S. 91), bleibt die Hypostase eines Bewusstseinsbegriffs wie des Absoluten ein Kindergeburtstagsweihnachtsmärchen. Scheler scheut sich auch nicht offensichtliche Widersprüche einzugehen, wenn er über das oberste Sein schreibt: „So wenig der Mensch zu seiner Bestimmung gelangen kann, ohne sich als Glied jener beiden Attribute des obersten Seins und dieses Seins sich selbst einwohnend zu wissen, so wenig das Ens a se ohne Mitwirkung des Menschen.“ (Kosmos, S. 92) Wenn die Gottheit der Mitwirkung des Menschen bedarf, so ist sie kein Ens a se (Sein aus sich), sondern abhängiges Sein wie der menschliche Geist von seinem körperlichen Fundament, dem Gehirn, abhängt, auch wenn er der Idee des Absoluten fähig ist.

Da es für Scheler letztlich „nie theoretische Gewißheiten“ (Kosmos, S. 93) in der Gottesfrage gibt, ist das Absolute im menschlichen Geist auch eventuell keine Gottheit, d.h. man braucht diese Begriffskrücke gar nicht, weil sich Gott und Mensch in seiner pantheistischen Konstruktion gar nicht unterscheiden. Einen Unterschied benötigt Scheler aber dennoch, um seine Wertlehre irrational abzusichern. Er braucht die Gottheit in ihrer Differenz zum menschlichen Geist, um seine „Werte“ auch theologisch zu legitimieren (vgl. das Zitat oben in diesem Abschnitt, Ethik, S. 94). Zwar hat Scheler seine persönliche Theologie mehrmals abgewandelt, nicht aber die Gottheit selbst und ihre legitimierende Funktion aufgegeben. Er fällt mit dieser theologischen Konstruktion hinter seine Behauptung zurück: „Zur Stützung des Menschen, zur bloßen Ergänzung seiner Schwächen und Bedürfnisse, die es immer wieder zu einem ‚Gegenstande’ machen wollen, ist das absolute Sein nicht da.“ (Kosmos, S. 93)

Gott offenbare sich "nur durch Mitvollzug, nur durch den Akt des Einsatzes und der tätigen Identifizierung" (a.a.O., S. 93). Da viele, wie auch der Autor dieser Kritik, den "Akt des persönlichen Einsatzes des Menschen für die Gottheit" (ebda.) ablehnen und mit diesem Akt die ganze Wertlehre, ist der derart subjektivierte Gott gestorben, bevor er sich hat durchsetzen können. Hat sich seine materiale Wertethik auch in der Praxis desavouiert, z.B. in seiner Apologie des Massenmordes, dem I. Weltkrieg, dann stirbt mit seiner Wertlehre auch sein Gott, der lediglich dazu da ist, diese zu legitimieren. Die Aporien eines mal transzendenten mal immanenten Gottes, die mangelnde Vereinbarkeit dieses Gottes mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, haben auch Theologen wie R. Bultmann dazu bewogen, Gott in den Menschen zu verlegen (vgl. Haag: Metaphysik, S. 64 ff.) - und Scheler wie Bultmann folgen diesem Trend. Durch diese Subjektivierung, die zugleich eine Entmythologisierung sein soll, wird aber der einst als objektiv und unabhängig vom Menschen gedachte Gott, der menschlichen Willkür preisgegeben: Er ist nur noch solange eine Macht und ein Wirken, wie die Menschen an ihn glauben. Da bei Scheler am Ende seines Lebens die gesamte Axiologie auf den subjektivierten Gott fundiert ist, hängt sie letztlich allein von der suggestiven Wirkung seiner philosophischen Rhetorik ab.

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Diese Konstruktion von Scheler, die alle restaurativen Motive des frühneuzeitlichen Rationalismus wiederholt (vgl. Mensching: Totalität, S. 15-26), aber zugleich das rationale Moment eliminiert, um es durch eine emotionale Monade zu ersetzen, stellt eine gefährliche Abwertung des menschlichen Geistes dar, der hinter die erkannte Leistung der menschlichen Subjektivität bei der Konstitution der Erkenntnis zurückfällt und das Denken wieder an ein scheinobjektives Gegebenes bindet, wie es einst der mittelalterliche ordo rerum darstellte. Durch die radikale Trennung von Geist als göttlich fundierter Monade, der die Werte fühlt und gründet, und dem empirischen Ich, das sich den Erfahrungen aussetzt, die aber beschränkt sein sollen, also der geistigen Fundierung durch die phänomenologische Methode bedürfen, schottet sich in Wahrheit diese Geistmonade von der gründlichen Durchdringung der wahren natürlichen und gesellschaftlichen Allgemeinheiten ab, an deren Abarbeitung doch erst seine Substanz sich bilden könnte, und bleibt im Bereich der Konstruktion von Welt, der dem bürgerlichen Ideologiebedürfnis entspringt. Die irrationale Konstruktion der Schelerschen Philosophie erweist sich als sublimierter Ausdruck der Widersprüche in der herrschaftlich verfassten Gesellschaft. (Siehe 2.8.4.) Da Schelers phänomenologische Methode als irrational erkannt wurde, sind seine gegebenen Werte tatsächlich willkürliche Setzungen, die sich als gottgegebenes Seiendes tarnen. Schelers Ontologie entpuppt sich wie die seines Zeitgenossen Heidegger als kruder Nominalismus, ohne ein Selbstbewusstsein von seiner Willkür zu haben (vgl. Haag: Ontologie, S. 83). Die Abwertung des menschlichen Geistes, der angeblich nur das Seiende zur „Gegebenheit“ bringen könne, wird zum Politikum in Schelers Apologie des imperialistischen Krieges, den er aus dem Wesen des Menschen fließen lässt.

Auch das ideologische Bedürfnis nach moderner theologischer Absicherung im Bürgertum hat diese in der Theologie immanente Tendenz befördert und popularisiert bis hinein in katholische Predigten in den Kirchen. W. F. Haug erklärt diese Tendenz folgendermaßen: "Der wissenschaftliche Sozialismus der modernen Arbeiterbewegung und die Fortschritte in Naturwissenschaften und Technik hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die philosophische Spekulation in eine tiefe Krise gestürzt. Die alte Verjenseitigung griff nicht mehr, war nicht mehr geeignet für den Status einer herrschenden Ideologie, und zwar weder in der direkt theologischen Form noch in der Form verschämter Theologien, die ein abstrakt-ideelles Jenseits postulierten. Im 'Diesseitigen' mußte die Philosophie ansetzen." (Haug: Philosophen, S. 184)  Dieses ideologische Bedürfnis ist die soziologische Bedingung für die Wandlung der Schelerschen Gottesideologie von der Transzendenz zur Immanenz.

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Letzte Aktualisierung:    08.05.2007